Einst hatten sich die Chyrrta gegenseitig bekämpft und niedergemetzelt, weil niemand mit dem zufrieden war, was er hatte, sondern durch Gewalt und Mord immer mehr an sich reißen wollte. Hyntha Gallan – eine Ahnin von Paraila – hatte dem ein Ende bereitet, indem sie in den Wassern Parasiten ausgesetzt hatte und somit dafür sorgte, dass die Chyrrta sich nicht mehr gegenseitig bekämpfen konnten, sondern sich darum kümmern mussten, ihr eigenes Überleben zu sichern. Dazu war für die meisten fortan ein großer Aufwand nötig, denn sie mussten bis zum Palast reisen, um sich Wasser zu holen. Oder sie waren auf die Nähe ihrer Heimat beschränkt, weil sie dort entweder eine sichere Wasserquelle zur Verfügung hatten, oder sie wurden von Bediensteten des Palastes mit dem notwendigen Gut versorgt.
Der Plan ging bis heute auf, und Kyla erkannte durchaus den Vorteil, der den Chyrrta durch die harten Maßnahmen zuteil wurde. Dennoch kostete es sie immer wieder Überwindung, die Notwendigkeit der flächendeckenden Vergiftungen einzusehen. Vor allem, da diese nicht nur die Chyrrta selbst, sondern auch die Pflanzen und Tiere in Mitleidenschaft zogen. Zum Glück hatten sich viele Tiere längst auf die Gegebenheiten eingestellt und tranken nur aus Quellen, die aus dem Erdreich hervorsprudelten oder in Höhlen zu finden waren. Da die Parasiten nur dann überleben konnten, wenn das Sonnenlicht sie stärkte, blieben der Bevölkerung und den Tieren zumindest diese Möglichkeiten, um sich mit Wasser zu versorgen.
Die Pflanzen zogen sich das Wasser ohnehin aus dem Erdreich, doch wie Kyla aus Olhas Büchern wusste, hatte es früher auch üppig blühende Pflanzen gegeben, die direkt aus den Seen wuchsen. Doch in keinem natürlichen See waren sie heute noch zu finden. Und auch die Tiere, die sich im Wasser bewegten, gab es schon lange nicht mehr. Zumindest nicht in der Natur, denn auf dem Palastgelände hatte Kyla zum ersten Mal Fische gesehen, die im Wasser schwammen, das nicht grün und von Parasiten verseucht war. Es war von einer Klarheit gewesen, die Kyla vollkommen gefangen genommen hatte. Und so ging es ihr immer noch, wenn sie ein Wasser vor sich sah, bei dem sie bis auf den Grund blicken konnte.
Sie ging zur Pferdetränke und sah zu, wie Golan sich den Bauch vollschlug – als sie bemerkte, dass er zugleich Wasser ließ, musste sie lachen. Es sah aus, als würde die Flüssigkeit einfach so durch den großen Pferdekörper hindurchfließen. Als Golan den Kopf schließlich aus der Tränke hob, fasste Kyla ihn an den Zügeln und ging mit ihm durch das Stadttor. Wachen waren links und rechts positioniert. Sie blickten Kyla kurz an, nickten ihr zu und bedeuteten ihr, weiterzugehen.
Die junge Kriegerin glaubte schon, es wäre so einfach in die Stadt zu gelangen, doch plötzlich stellte sich ihr ein Mann in den Weg, der der reinste Hüne war. Er trug ein Schwert an der Seite und wurde durch einen Brustpanzer geschützt. Der Bewaffnete bemühte sich sichtlich, trotz seiner Erscheinung freundlich zu wirken. Erst dann erkannte Kyla, dass noch zwei weitere Wachen in der Nähe standen, doch offensichtlich hielten sie es bei ihrem Anblick nicht für nötig, sich zu dem ersten Wächter zu gesellen.
»Willkommen in der Stadt Tritam! Im Namen der Herrscherin Paraila gewähren wir dir Gastfreundschaft und unseren Schutz.«
Kyla musste bei den Worten des Mannes schmunzeln. Er runzelte die Stirn. »Was erheitert dich?«
»Es ist nichts. Ich bin nur amüsiert, weil ich erst vor kurzem Parailas Palast verlassen habe. Und nun gewährt sie mir hier zugleich schon ihre Gastfreundschaft. Natürlich handelt Ihr in ihrem Namen, daher ist meine Erheiterung fehl am Platz.« Kyla lächelte unbeholfen und fragte sich insgeheim, warum sie überhaupt versuchte, ihm ihre Verwirrung zu erklären.
Der Mann brauchte einen Augenblick, dann hellte sich seine Miene deutlich auf, und er machte eine Verbeugung. »Dann müsst Ihr Kyla sein – die Kriegerin der grünen Wasser.« Er versuchte, so unauffällig wie möglich auf ein Gemälde zu blicken, das in einem Holzverschlag hing, der ihm wohl bei schlechtem Wetter als Unterstand diente. Kyla folgte seinem Blick und erkannte auf dem Bild sich selbst. Der Wächter sah rasch wieder zu ihr.
»Verzeiht mir bitte, hochgeschätzte Herrin, dass ich Euch nicht gleich erkannte. Ich hoffe, Ihr könnt mir – Eurem ergebenen Diener – vergeben. Mir wurde angekündigt, dass Ihr irgendwann die Stadt besuchen werdet, jedoch bekam ich keine Mitteilung darüber, dass es nun soweit ist. Natürlich liegt es allein in meiner Verantwortung, Euch gleich beim ersten Anblick die Ehre zuteilwerden zu lassen, die Euch gebührt. Mein Versäumnis ist tadelnswert.«
»Schon gut«, murmelte Kyla, der bei der ehrerbietigen Anrede ganz seltsam zumute war. Sicher, in den Dörfern rund um den Palast hatte man auch um ihren Stand gewusst, doch die Leute waren ungebildet und bedienten sich einer schlichten Sprache, sodass sie zwar Respekt gespürt, doch selten so viel Förmlichkeit gehört hatte. Kyla wurde ein wenig rot und hoffte, der Wachmann würde es auf ihre anstrengende Reise zurückführen. In ihren Gedanken hatte sie bereits eine ähnlich förmliche Antwort formuliert, doch dann besann sie sich darauf, dass sie als höher gestellte Chyrrta beim Du bleiben musste.
»Du wusstest, dass ich irgendwann kommen würde?« Es erstaunte sie wirklich, dass man hier mit ihr gerechnet hatte – wenn auch nicht zu diesem Zeitpunkt.
»Ja, über verschiedene Boten wurde uns mitgeteilt, dass Ihr neugierig auf diese Stadt seid und sie ganz sicher irgendwann besichtigen werdet. Wir sind seit vielen Jahreszeiten darauf vorbereitet.« Kyla sah ihn erstaunt an. Man hatte sich auf ihr Kommen vorbereitet? Sie nickte nur vage, da sie nicht offenbaren wollte, wie sehr sie diese Tatsache erstaunte.
»Ein Zimmer in der besten Unterkunft der Stadt ist für Euch vorbereitet, und ein Platz im Stall des Hauses für Euer Pferd reserviert«, sagte der Wächter.
»Außerdem werden Euch drei Dienerinnen mit Freuden die Schönheiten Tritams zeigen – aber darüber erfahrt Ihr alles in der ‘Kriegerin der grünen Wasser’«.
Als Kyla ihn verständnislos anblickte, erklärte der Mann schnell: »Die Unterkunft – also das Gasthaus – wurde nach Euch benannt. Es liegt linksseitig im Zentrum des Marktes. Von dort aus habt Ihr die kürzesten Wege zu den Ständen der Händler und könnt jederzeit ins Gasthaus zurückkehren, um Euch zu erfrischen. Man wird sich sehr freuen, Euch endlich persönlich bewirten zu dürfen.«
Kyla seufzte schwer. Es war nicht ihre Absicht gewesen, hier hofiert zu werden. Ganz im Gegenteil! Sie hatte sich auf dieses Abenteuer gefreut, da sie glaubte, endlich einmal zu den gewöhnlichen Chyrrta gehören zu dürfen – alles mit deren Augen zu sehen und Dinge zu erleben, die nicht durch die Zugehörigkeit zum Palast geprägt waren. Im Grunde hatte sie bislang in ihrem Leben nur völlige Einsamkeit und ein recht bodenständiges Dasein bei Olha und Zygal, sowie – zumindest am Tage – ständige Gesellschaft und den verschwenderischen Prunk am Hofe kennengelernt.
Sie dürstete danach, die Ebenen dazwischen kennenzulernen, wie sie die absolute Mehrheit der Bevölkerung tagtäglich erlebte. Wie sollte man einem Volk nahe sein, dessen Alltag, einfache Freuden und Nöte man nicht kannte? Dies hier war ihre Möglichkeit, endlich all das hautnah zu erleben. Aber das würde ihr verwehrt bleiben, wenn bereits alles für sie bereitstand.
»Angenommen, ich wäre eine andere Besucherin dieser Stadt – eine Reisende, die hier nur Erholung sucht – welche Empfehlung für eine Unterkunft hättest du mir dann gegeben?«
Der Wachmann schien über die Frage erstaunt, aber er nahm die Herausforderung sofort an. »In der Gasse am nördlichen Ende hinter dem Marktplatz gibt es eine Unterkunft, die klein aber sauber ist und fernab des Trubels liegt. Sie heißt ‘Handuls Schenke’. Es gibt dort nur drei Zimmer im Obergeschoss. Trotz der geringen Anzahl stehen sie meist leer, denn die Händler möchten nahe am Markt wohnen, um schon früh am Morgen ihren Stand zu bestücken. Sie bevorzugen daher die Unterkünfte unmittelbar am Platze. Bei Handul hingegen logieren die wenigen Reisenden, die sich lediglich die Schönheiten der Stadt ansehen wollen, ohne selbst Geschäfte zu betreiben.«
»Genau das bin ich – eine Reisende, die die Schönheiten der Stadt sehen möchte. Und das Treiben auf dem Markt bekomme ich ja auch zu sehen, wenn ich mich von der Schenke aus dorthin begebe. Geschäfte will ich nicht betreiben, außer das eine oder andere für meine