Als er schon glaubte, die bohrenden Kopfschmerzen keine Sekunde länger mehr ertragen zu können, hörte er, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Wenig später stand Doris vor ihm und sah ihn fast erwartungsvoll an.
„Mein Gott! Kommst du auch noch mal wieder?“
Die Frau hob resigniert die Schultern, stellte die Plastiktüte mit dem Bier auf den Boden und zog den Mantel aus.
„Nu mach schon! Oder soll ich hier verdursten?“
Widerwillig nahm die Frau eine Flasche aus der Tragetasche und reichte sie Gerber.
„Warum guckst du so dämlich aus der Wäsche?
„Wie soll das denn weitergehen, Georg?“
Er konnte es schon nicht ausstehen, wenn jemand ihn Georg nannte. Seine Freunde nannten ihn Schorsch, and alle anderen sollten ihn am besten überhaupt nicht anreden. „Wie soll was weitergehen?“, schrie er los. „Was redest du da eigentlich für einen Quatsch?“
Als wolle sie einen letzten Versuch unternehmen, ging die Frau auf Gerber zu, hockte sich vor ihn auf den Boden und sah ihn an. „Du musst aufhören zu saufen, Georg, sonst wird das nichts mit uns.“
„Was soll denn aus uns werden?“, rief Gerber und lachte höhnisch. Er nahm noch einen tiefen Schluck aus der Flasche.
„Wir könnten es doch so gut haben, ich meine jetzt, wo .....“
„Was meinst du? Du meinst wohl, jetzt, wo Elke weg ist, kannst du dich bei mir ins gemachte Nest setzen! Aber da täuscht du dich! Glaubst du vielleicht, ich habe irgendwelche Absichten mit so einer abgetakelten Schlampe! Noch dazu tablettensüchtig! Du spinnst doch wohl!“
Das war zuviel gewesen. Die Frau presste sich gegen ihn, als wollte sie ihn nötigenfalls mit Gewalt daran hindern weiterzureden und begann plötzlich haltlos zu weinen. „Warum bist du nur so gemein?“
Gerber nahm die Wärme des anderen Körpers zwischen seinen Oberschenkeln wahr. „Du taugst doch nicht mal mehr zum Vögeln.“
Die Frau wollte sich zurückziehen, und dann hatte Gerber seine rechte Faust in ihr Haar gekrallt und hielt sie fest. „Oder vielleicht doch? Wir können es ja mal probieren.“
Als die Frau nun in Gerbers Gesicht sah, bekam sie plötzlich eine panische Angst. „Lass mich los! Du tust mir weh!“
Gerber packte noch fester zu und zog den sich wehrenden Kopf der Frau gegen seinen Körper. Ihre nun ganz offensichtliche Angst steigerte seine Raserei. „Los, hol ihn raus und zeig mal, was du kannst!“
„Lass mich los, oder ich rufe um Hilfe!“
„Du sollst ihn rausholen, oder ich schlage dir den Schädel ein!“, schrie Gerber außer sich und zog mit der linken Hand den Reißverschluss seiner Jeans nach unten.
Mit letzter Anstrengung konnte sich die Frau aus Gerbers Griff befreien und stürzte nach hinten auf den Boden. Augenblicklich saß Gerber rittlings über ihr.
Sie würde nun versuchen zu schreien, das war klar. Also packte er mit beiden Händen ihren Hals und drückte mit den Daumen zu, so fest er konnte. Er schloss die Augen, weil ihn das Gesicht auf dem Boden zusehends anekelte, und er ließ erst los, als der zuckende Körper unter ihm aufgehört hatte sich zu wehren.
3
„Die Schizophrenie, meine Damen und Herren, ist eine Ideologie im Kleinen, im Individuellen; und die Ideologie ist eine Schizophrenie des kollektiven Bewusstseins": Professor Streiter konnte eigentlich sicher sein, dass die Mehrheit der in dem überfüllten Hörsaal sitzenden und stehenden Studenten den ersten Satz seiner Vorlesung zur Sozialpsychologie nicht verstanden hatten. Der Geräuschpegel in dem riesigen Raum war trotz des professoralen Auftretens und seines mehrfachen Klopfens mit dem Zeigefinger auf das Mikrophon ungebührlich hoch. Noch immer versuchten nämlich junge Leute gegen alle Vernunft zwischen den vollen Sitzreihen über die nach unten abfallenden Gänge weiter nach vorne zu gelangen, strömten zu spät kommende Kommilitonen in den Saal, schienen diejenigen, die einen Sitzplatz ergattert hatten, vor allem damit beschäftigt zu sein, mit den vor ihnen befindlichen Schreibplatten möglichst geräuschvoll zu hantieren.
Auch als Professor Streiter bekannt gab, diese Zirkeldefinition des französischen Marxisten Jean Gabel lediglich als provokante, von ihm aber letztlich abgelehnte These an den Beginn seiner eigenen Ausführungen stellen zu wollen, war es immer noch fast quälend laut. Erst als Streiter von sich gab, dass selbstverständlich der Entdialektisierungs- und Verdinglichungsprozess der gemeinsame Nenner sowohl der Ideologie als auch der Schizophrenie sei, dies aber nun wirklich schon den Status eines Gemeinplatzes habe, wurde es endlich ruhiger. Und dennoch war Streiter weiterhin davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit seiner Studenten ihn nicht verstanden hatte. Akustisch mittlerweile vielleicht, aber ansonsten auf keinen Fall. Seine berufliche Haltung war vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er Studenten durchweg für dumm hielt, für eine verwöhnte, wurstige Masse, die einfach nicht einsah, welche Möglichkeiten sie seiner Meinung nach hatte: sich die ganze Welt durch Bücher in die eigenen vier Wände zu holen.
Und genau dazu schienen die anwesenden jungen Leute gerade an diesem Tag gar kein Interesse zu haben. Draußen herrschte nämlich das schönste Märzwetter, das man sich durch Streiters langweiliges Gerede jedenfalls nicht in diesen von Neonlicht erleuchteten Betonbunker holen konnte. Und außerdem hatte fast die Hälfte aller anwesenden jungen Leute irgendein elektronisches Gerät bei sich, mit dem sie sich völlig ungeniert das auf kleine und größere bunte Bildschirme holten, was sie für die Welt hielten.
Auch Inga Weber hing derartigen Gedanken nach. Sie saß auf einer der unteren Stufen des Hörsaals, hielt einen Schreibblock nur mühsam auf den Knien und einen Kuli in der rechten Hand für den Fall, dass doch noch irgend etwas Bemerkenswertes dem professoralen Munde entschlüpfen sollte. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies nicht der Fall sein würde, und deshalb hatte sie lange gezögert, die Vorlesung am heutigen Vormittag zu besuchen. Letztlich war sie überhaupt nur in die Vorlesung gegangen, um die lange Straßenbahnfahrt von Gelsenkirchen nach Bochum irgendwie zu rechtfertigen. Außerdem hatte Stefan heute seine letzte Nachtschicht hinter sich gebracht, und an solchen Tagen konnte man ihn vor dem Nachmittag ohnehin nicht aus dem Bett bekommen.
Nach drei Semestern war sie von dem Fach Psychologie maßlos enttäuscht. Sie hatte sich etwas ganz anderes darunter vorgestellt. Was genau, das konnte sie auch heute noch nicht sagen, etwas ganz anderes eben, und nun würde sie lieber heute als morgen die Brocken hinwerfen. Aber da war eben die paar Euro Bafög, die sie bekam, weil ihre Eltern ihr nicht das gesamte Studium bezahlen konnten; als Lehrer verdiente ihr Vater zwar eigentlich ganz gut, aber das vorhandene Familieneinkommen musste auf vier Kinder verteilt werden, die allesamt noch studierten und von denen sie das jüngste war. Und dieses verdammte Stipendium verlangte von ihr nach jedem Semester irgendwelche Scheine, Belege und Prüfungen, die sie bis jetzt nur mit manchmal unbeschreiblichem Ekel hinter sich gebracht hatte. Jedes Semester war dieser Ekel noch ein Stück schlimmer geworden, und in den letzten Wochen war es ihr immer öfter so vorgekommen, als würde eine Verbindung nach der anderen zur wirklichen Welt gekappt. Manchmal hatte sie sich schon gewünscht, mit Pauken und Trompeten durch diese Prüfungen zu fliegen, damit endlich irgendeine Entscheidung gefallen war; denn mit jeder bestandenen Prüfung kam ihr ein Entrinnen aus diesen perversen Zusammenhängen unmöglicher vor.
„Die Schizophrenie, meine Damen und Herren, soll also eine Ideologie im Kleinen, im Individuellen sein? Die Ideologie eine Schizophrenie des kollektiven Bewusstseins?“ Die mittlerweile als Frage wiederholte Behauptung des Anfangs der Vorlesung erreichte sie nur, weil Professor Streiter offensichtlich auch noch ein großes Vergnügen dabei empfinden konnte, sich mit einem solchen Firlefanz zu beschäftigen. Wer keine Probleme hat, dachte sie, der macht sich eben welche. Vor allem dann, wenn er für diesen Blödsinn auch noch so