Wieder kann ich, wenn ich sehe, dass ich vor acht Jahren ein Zitat aus Morgensterns Werk dem Essay über Rosenzweigs Text zum apologetischen Denken vorausgeschickt habe, nicht davon absehen, in welcher historischen Situation ich meine Texte überarbeite und neu herausbringe. Sich überhaupt mit Apologetik zu beschäftigen, erscheint mir in der gegenwärtigen Lage fast naiv. Und was aus dem Ende des Exils und dem „Anfang der Erlösung“, als den Morgenstern den jüdischen Staat ansah, geworden sein könnte, habe ich ja schon gesagt: Etwas wie ein europäischer Staat im Exil.[4] Es ist freilich ein Staat entstanden, der sich in seiner weit mehr als apologetischen Wehrhaftigkeit und mit der Tatsache, dass er als Staat Regionen kontrolliert, die unter dieser Kontrolle nur wütendere Bevölkerungen hervorbringen, in einer für das jüdische Volk seit vielen Jahrhunderten völlig unbekannten Situation befindet. In dieser Situation mühen sich die Bürger und Repräsentanten des jüdischen Staates immer wieder neu um politische, religiöse oder nichtreligiöse, kulturelle und moralische Selbstdefinitionen. Die Intensität dieser Veränderung kann vielleicht durch eine nicht völlig fernliegende Parallele verdeutlicht werden: Man stelle sich vor, die kurdischen Kämpferinnen, deren Formierung manche westliche Beobachterin mit großer Sympathie begleitet, weil endlich Frauen in einer Weltregion, in der sie sehr wenige eigene Rechte haben, die Waffen in die Hand nehmen und eigene Kampfeinheiten bilden, siegen plötzlich. Man stelle sich vor, sie erlangen Macht über eine Region, in der schroff patriarchalische Stämme leben und übernehmen in ihren Heimatregionen etwas wie eine Autoritätsfunktion. Einige von ihnen etablieren – immer weiter in der fiktiven Parallele – mit internationaler Unterstützung ein eigenes kleines Gemeinwesen, das prosperiert und sich gegen Übergriffe der hasserfüllten Nachbarn mit immer neuen Gebietsgewinnen durchsetzt. Gleichzeitig wollen diese neuerdings mächtigen Frauenorganisationen immer weiter als die eigentlichen Opfer der Geschichte angesehen werden: Man wird es ihnen nicht lange erlauben.
Natürlich ist diese Konstruktion lächerlich, nicht nur, weil das erotische Verlangen von Frauen und Männern nacheinander bei aller Vielfalt seiner Erscheinungsformen und Verschiebungen dann doch etwas fester in der menschlichen Gefühlslage verwurzelt ist als es das Verlangen von irgendwelchen verschiedenen Religionen nacheinander jemals sein könnte. Dennoch kann man sich anhand des Beispiels vielleicht klar machen, welche Folgeschwierigkeiten der Übergang von einem Status jahrhundertelanger Unterdrückung in eine mindestens regionale Vormachtstellung auch dann mit sich bringt, wenn er vergleichsweise kontrolliert und besonnen (nämlich keineswegs so gewaltsam wie viele andere postkoloniale Revolutionen in anderen Teilen der Welt) vor sich geht. Ich habe das Beispiel erwogen, weil wir längst viel zu sehr daran gewöhnt sind, in den Israelis ein „Tätervolk“ zu sehen, über dessen Taten wir uns empören. In bewaffneten kurdischen Frauen den Charme der „befreiten Sklavin“ zu entdecken, fällt uns heute üblicherweise etwas leichter. Die Mühen der Selbstermächtigung und der unglaubliche Mut, den sie erfordern, werden an ihnen besonders deutlich. Es ist immer ein Todesmut dabei.[5] Ein solcher Mut ist auch heute noch (und wieder) erforderlich, wo immer jüdische Menschen als jüdische Menschen gefährdet sind und sich nicht mit einer gedrückten oder bloß apologetischen Position zufrieden geben wollen.
In diesem Kapitel geht es nun also um das Verhältnis von verteidigendem Denken und „letztem Erkennen“. Soviel mir bekannt ist, deutet nichts auch nur ansatzweise darauf hin, dass Rosenzweig in einer seiner prophetischen Stimmungen die Entstehung eines derartig kraftvollen jüdischen Staates vorhergesehen hätte, und auch Soma Morgenstern, der immerhin die Niederschlagung des arabischen Angriffs auf den frisch gegründeten Staat im Unabhängigkeitskrieg als ferner Zeitzeuge erlebte, wird sich eine Situation wie die heutige nicht ausgemalt haben.[6]
Beider Schriften haben dennoch zur heutigen Situation etwas zu sagen. An Rosenzweigs Schrift „Apologetisches Denken“ kann man besonders deutlich ablesen, wie selbstbewusst Rosenzweig auf seinem Gebiet, der Philosophie, das Projekt der jüdischen Selbstermächtigung ernst genommen hat. Die „allgemeine“ Philosophie wollte er tatsächlich „erobern“. Nicht so sehr, um sie zu „besetzen“, sondern um einen eigenen jüdischen Zugang zum Ganzen der Erkenntnistheorie zu legen – also nicht nur einen, der dem jüdischen Denken „auch ein Recht“, einen Nischenplatz zugestanden hätte, sofern es von seiner Jüdischkeit absah. Er hatte es freilich auch nicht darauf abgesehen, dem Jüdischen, sofern es ein Rest war, der am jüdischen Denker hängen bleiben durfte, wenn der sich im übrigen zu den Höhen des allgemeinen Denkens aufschwang, mit mehr oder weniger erfolgreicher Apologetik zu mehr oder weniger Legitimität zu verhelfen. Genau das aber war (und ist zumeist) die Bedeutung von Apologetik in aller, auch in der christlichen apologetischen Literatur: sie entsteht da, wo man als Philosoph nach der Aufklärung ernstgenommen zu werden wünscht, obwohl man auch noch Christ (oder Moslem oder sonst ein religiöser Mensch) bleibt. Rosenzweig wollte die Verlierer-Aura zuerst aus dem Denken der Juden verjagen. Das tat er, indem er nun in seiner Schrift „Apologetisches Denken“ – entstanden, als er selbst schon ein schwer kranker Mann war – einerseits das apologetische Schrifttum kritisch verteidigte, indem er andererseits am Beispiel des jüdischen Denkens für das unverfügt und unverfügbar „Resthafte“ eines jeden denkenden Menschen ein Recht im Zentrum der allgemeinsten und höchsten Philosophie erschrieb oder, wie man heute vielleicht lieber liest, dem Zentrum der Philosophie einen Platz „einschrieb“ für den „Rest“, also für alles, was sich nicht subsumieren lässt und nicht in der Philosophie aufgeht oder „aufgehoben“ werden kann. Er endet seinen Text mit dem Satz, dessen zweite Hälfte ich in ihrer Schroffheit als Kapitelüberschrift zitiere: „Denn letztes Erkennen verteidigt nicht mehr, letztes Erkennen richtet.“ Wie sehr er damit zeigt, dass er im Grunde auf Cohens methodologischer Linie geblieben ist, würde sich dann gerade daran zeigen, dass das „letzte Erkennen“ als ein „Richten“ bezeichnet wird? Möglich ist das.[7]
Morgenstern hat dann in der Blutsäule – bewusst oder unbewusst – ganz ähnlich geschrieben. Nicht nur hat er von einer eigentümlichen Wendung des Deutschen Gebrauch gemacht, nach der das Gerichtsurteil auch „ein Erkenntnis“ ist.[8] Er hat darüberhinaus ein „Erkenntnisinteresse“ formuliert, das die Wissensfrage mit der Wollensfrage verbindet und entsprechend nicht (wie Kant) zuerst fragt „was können wir wissen?“, sondern „was wollen wir wissen?“ Und er beantwortet sie in der Schrift Die Blutsäule, die ganz und gar als eine Gerichtserzählung über die Shoah aufgebaut ist, mit verzweifelt prophetisch-säkularen Worten:
"Wir wissen: Das Diesseits wird frei werden vom Übel. Und wenn das nicht wahr ist, wollen wir weiter nichts wissen, denn es gäbe sonst nichts, was des Wissens noch wert wäre."[9]
Eine derartig absolute Forderung ist in ihrer Zeit verständlich – und liest sich heute, nach dem gewaltigen Scheitern der ganz großen utopischen Entwürfe des zwanzigsten Jahrhunderts, eher so, als würde damit der Schrecken heraufbeschworen, vor dem diese Aussage sich