Berner entschärfte die Lage ein wenig, indem er das Gespräch wieder übernahm.
„Hmhm. Das ist jetzt aber ziemlich unagenehm. Ich weiß, so ein Datenzugriff wird nicht einmal dokumentiert. Wer hatte alles Zugang?
Martin wurde es mulmig. Er wollte nicht seine eigenen Leute in Verdacht bringen. Aber Berner würde es ja sowieso herauskriegen. Oder wusste es ohnehin schon.
„Frank Thomsen, August Maier und – hm – Miriam Kellein. Sonst eigentlich niemand.“
„Weißt du etwas über deren private Kontakte?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Er wusste, dass er in einem Fall log.
„Wir müssen alle drei befragen. Du bist ja wohl außen vor, du warst ja zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der Firma. Außer du hast einen Komplizen.“ Berner grinste.
„Guter Witz. Aber du wirst schnell entdecken, dass ich auch kein Motiv habe. Im Gegenteil: Ich lebe davon, dass nichts nach außen dringt.“
„Also Rache wäre da noch ein Motiv. Hast du Feinde oder Konkurrenten?“ Martin war sich nicht sicher, wie ernst Berner das meinte. Und erwischte sich dabei, darüber nachzudenken, ob nicht Frank infrage käme, der eingeschleust ihm schaden sollte. Er verwarf den Gedanken aber sofort und verwies ihn in den Bereich der durch häufigen Krimikonsum sensibilisierten Phantasie.
„In unserem Geschäft gibt es natürlich Konkurrenz und ich fand nicht alle sympathisch, denen ich früher beruflich begegnet bin. Aber Feinde? Nein. Und wirkliche Konkurrenz im Moment auch nicht. Was ich gerade mache, sollte eigentlich keiner so genau wissen.“
„Also, ehrlich gesagt: Wir wissen nicht, was gestohlen wurde, wir wissen nicht, wer dahinter stecken könnte und wir haben keine Ahnung, worum es gehen könnte. Ausschließen wollen wir im Moment nur, dass der Stick einfach nur abhanden gekommen ist. Und es kann eine Banalität sein oder eine Riesensache.“ Berner war ein nüchterner Mann. „Wir werden auf jeden Fall die Drei befragen und eure Verantwortlichen, ob in letzter Zeit häufiger Verdachtsmomente auf Werksspionage bestanden.“
So ein Mist, dachte Martin. Da hat jemand den Stick verschlampt und jetzt wird ein Riesenfass aufgemacht. Sein gutes Verhältnis zu Miriam sollte jedenfalls nicht leiden. Die hatte auch sicher nichts damit zu tun. August war ein ängstlicher Mensch, der kaum kriminelle Energie besaß, nur Frank würde er jetzt genauer beobachten. Er war neu, ziemlich brillant und darüber hinaus nicht besonders sympathisch.
Die Arbeit im Labor war weiterhin nicht sehr spannend. Aufräum - und Dokumentationskram, um den Kopf und den Schreibtisch frei zu bekommen für die neue Generation von Wirkstoffen, für die der Vorstand ehrgeizige Vorgaben gesetzt hatte. Vorgaben, die man ehrlicherweise gar nicht setzen konnte. Aber so war es bei modernen Unternehmen. Die Sparte war den Chefs egal. Bei Flugzeugen konnte man sagen, sie müssen um so viel weniger Sprit brauchen, so und so viele Personen transportieren und so viele Kilometer weit ohne Tanken fliegen können und dann war es nur noch eine Frage der Entwicklung von allen Fachgebieten, wie Materialien, Aerodynamik, Aeroelastik, Gewichte, Triebwerke und so fort. Anders in der Pharmaindustrie. Hier war Können und Intuition von einzelnen gefragt mit ungewissem Ausgang. Wie viele Millionen Schweizer Franken und Jahre für Neuentwicklungen schon in den Sand gesetzt wurden, war ihm sehr bewusst. Wenn Arzneimittel so teuer waren, lag das meist nicht an den exorbitanten Gewinnen, sondern daran, dass riesige Verluste für ergebnislose Entwicklungen wett gemacht werden mussten. Die meisten Unternehmen begaben sich mit anderen Produktlinien auf die sichere Seite, verpackten Aspirin ein wenig anders und glichen damit Verluste aus. Das war bei Bionik Health nicht gut möglich, weil die Marke als innovativ und futuristisch entwickelt worden war und das ließ Konventionelles nicht zu. Ihr Vorsprung konnte nur mit absolut Neuartigem erhalten werden. Daher brauchte man vielversprechende Leute wie Frank. Er war ein Vertreter der neuen Richtung, der meinte, auch bei pharmazeutischen Produkten ein „design to target“ durchführen zu können. Auch deswegen fand Martin ihn nicht sehr sympathisch. Er hielt dieses Denken für einen Ko Tau vor den mächtigen Finanzmanagern und extrem unseriös. Frank hatte ihm ausführlich die Verfahrenstechnik expliziert, an der er an der Uni mitgeforscht hatte, mit der er summa cum laude promoviert hatte und an die er glaubte. Diese Art zu arbeiten würde ein völliges Umdenken erfordern. Computersimulationen anstelle der Laborküche. Es klang verheißungsvoll. Ein Flugzeug wurde heute auch nicht mehr im Modell gebaut, sondern nur noch als Software entwickelt. Wenn es dann fertig gebaut war, wusste keiner, ob es auch wirklich fliegen kann. Abermillionen waren ausgegeben, ohne diese Sicherheit zu haben. Aber beim Flugzeugbau funktionierte das schon viele Jahre so. Bei Pharmaprodukten konnte er sich das einfach nicht vorstellen.
Miriam war seit ihrem gemeinsamen Kurzurlaub bedrückt und ein wenig abwesend. Zu Martin war sie vertraut wie immer, so dass er den Gedanken gleich wieder verwarf, sie würde den kleinen Ausflug bereuen. Es hatte wohl nichts mit ihm zu tun. August war noch nervöser und Frank ging allen auf die Nerven. Seine Selbstsicherheit und sein arrogantes Auftreten störten das gewohnte harmonische Miteinander. Aber objektiv konnte man ihm nichts vorwerfen.
Die Ermittlungen von Berner und seinem Team kamen nicht voran. Leutnant Paul, der Berner zugeteilt war, ließ sich ein paar Mal in der Firma sehen. Er war wie immer eingebildet und ständig missmutig, vollkommen humorfrei und durchaus unhöflich, was für einen Schweizer sehr untypisch war. Erfolgreicher war er aber auch nicht. Man hatte das Vor - und Privatleben der drei gründlich durchleuchtet, Martins wohl auch, ohne dass er etwas davon bemerkte. Berner fand nichts, was einen Anfangsverdacht begründen würde. Dass Frank häufig mit seinen alten Studienkollegen zusammenkam und August seine Freizeit mit einer Ökogruppe gegen die Ausbeutung von irgendwas verbrachte, bewertete er als nicht besonders relevant und so beschloss er eines Tages, die Akte wegen Geringfügigkeit zu schließen. Auch gab es keine erkennbaren Auswirkungen, die der Firma hätten schaden könnten. Er sandte den Bericht auch an die Anwälte des Vorstands und wandte sich anderen Aufgaben zu.
An einem Montag Morgen wurde Martin vor den Vorstand zitiert. Er wunderte sich, weil er eigentlich die ganze Sache für sich schon abgehakt hatte. Sogar Jean Paul Maurus, der Vorstandsvorsitzende war neben Sean anwesend. Auch der Entwicklungsvorstand, der alte und gutmütige Prof. Peter Brocks und der Produktionsvorstand Schulte saßen da im illustren Kreis.
„Guten Morgen, Herr Dr. Hohenstein. Danke, dass sie sich die Zeit nehmen“, sagte Maurus. Als ob er eine Wahl gehabt hätte.
„NeuroX entwickelt sich ja prächtig. Und wir wissen, Ihren Beitrag einzuordnen.“ 'Einordnen' klang irgendwie ambivalent. Aber er war ja in der Schweiz. Worauf er wohl hinauswollte, dachte Martin.
„Wie sie vielleicht wissen, geht Prof. Brocks in den Ruhestand.“ Martin wusste es nicht und wunderte sich über die Wendung.
„Und da haben wir uns wegen der Nachfolge Gedanken gemacht. Der Verwaltungsrat wollte jemanden von außen anheuern.“ So what, dachte Martin, machte aber ein ernstes und interessiertes Gesicht. Er hatte mit Brocks kaum etwas zu tun, obwohl er sein Vorgesetzter war und mit einem Neuen wird das nicht anders sein.
„Wir haben uns aber entschlossen, jemand aus eigener Aufzucht zu nehmen. Unsere Wahl ist auf sie gefallen. Dr. Frank Thomsen wird dann ihre Stelle übernehmen Bitte überlegen sie es sich und teilen uns ihren Entschluss innert der nächsten Woche mit. Das wär's dann. Vielen Dank und einen erfolgreichen Tag. Wir wollen sie nicht länger von ihren Aufgaben abhalten.“
Peng-peng-fertig. Martin nickte höflich, Worte fielen ihm gerade nicht ein und er zog sich in leichter Trance zurück. Er, der Kleingeist hatte geglaubt, sie würden ihn wegen des USB-Sticks zitieren und seine Karriere für beendet erklären und dann das. Er fühlte erst einmal ausgeprägte Leere und nur langsam wurde ihm das Geschehene bewusst. Er war in den Vorstand befördert worden. Auf Schweizer Art: Schlicht und klar. Einfache Dinge wurden einfach vermittelt. Widerspruch zwecklos. Ablehnen war gleichbedeutend mit hinausgeworfen werden ohne Zukunft – zumindest in der Schweiz und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus. Und Frank würde seine Stelle bekommen. Für Miriam war das eine berufliche Katastrophe. Seine Ablehnung würde Miriam aber auch nicht helfen.
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