Die Welt von Gestern. Stefan Zweig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Zweig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750242388
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im klaren waren, den Sachverhalt zuzugeben, und man lese bei Freud nach, wie selbst sein verehrter Lehrer Charcot ihm privatim gestand, daß er die wahre Causa wohl kenne, nie aber öffentlich verlautbart habe. Am allerwenigsten durfte sich die – damals so benannte – ›schöne‹ Literatur an aufrichtige Darstellungen wagen, weil ihr ausschließlich das Ästhetisch-Schöne als Domäne zugewiesen war. Während in früheren Jahrhunderten der Schriftsteller sich nicht scheute, ein ehrliches und umfassendes Kulturbild seiner Zeit zu geben, während man bei Defoe, bei Abbé Prévost, bei Fielding und Rétif de la Bretonne noch unverfälschten Schilderungen der wirklichen Zustände begegnet, meinte jene Epoche nur das ›Gefühlvolle‹ und das ›Erhabene‹ zeigen zu dürfen, nicht aber auch das Peinliche und das Wahre. Von allen Fährnissen, Dunkelheiten, Verwirrungen der Großstadtjugend findet man darum in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum einen flüchtigen Niederschlag. Selbst wenn ein Schriftsteller kühn die Prostitution erwähnte, so glaubte er sie veredeln zu müssen und parfümierte die Heldin zur ›Kameliendame‹. Wir stehen also vor der sonderbaren Tatsache, daß, wenn ein junger Mensch von heute, um zu wissen, wie die Jugend der vorigen und vorvorigen Generation sich durchs Leben kämpfte, die Romane auch der größten Meister jener Zeit aufschlägt, die Werke von Dickens und Thackeray, Gottfried Keller und Björnson, er – außer bei Tolstoi und Dostojewskij, die als Russen jenseits des europäischen Pseudo-Idealismus standen – ausschließlich sublimierte und temperierte Begebnisse dargestellt findet, weil diese ganze Generation durch den Druck der Zeit in ihrer freien Aussage gehemmt war. Und nichts zeigt deutlicher die fast schon hysterische Überreiztheit dieser Vorvätermoral und ihre heute schon unvorstellbare Atmosphäre, als daß selbst diese literarische Zurückhaltung noch nicht genügte. Denn kann man es noch fassen, daß ein so durchaus sachlicher Roman wie ›Madame Bovary‹ von einem öffentlichen französischen Gericht als unzüchtig verboten wurde? Daß in der Zeit meiner Jugend Zolas Romane als pornographisch galten oder ein so ruhiger klassizistischer Epiker wie Thomas Hardy Stürme der Entrüstung in England und Amerika erregte? So zurückhaltend sie waren, diese Bücher hatten schon zuviel verraten von den Wirklichkeiten.

      Aber in dieser ungesund stickigen, mit parfümierter Schwüle durchsättigten Luft sind wir aufgewachsen. Diese unehrliche und unpsychologische Moral des Verschweigens und Versteckens war es, die wie ein Alp auf unserer Jugend gelastet hat, und da die richtigen literarischen und kulturgeschichtlichen Dokumente dank dieser solidarischen Verschweigetechnik fehlen, mag es nicht leicht sein, das schon unglaubwürdig Gewordene zu rekonstruieren. Ein gewisser Anhaltspunkt ist allerdings gegeben; man braucht bloß auf die Mode zu blicken, denn jede Mode eines Jahrhunderts verrät mit ihrer optisch gewordenen Geschmacksrichtung unwillkürlich auch seine Moral. Es kann nun wahrhaftig nicht Zufall genannt werden, daß heute, 1940, wenn im Kino Frauen und Männer der Gesellschaft von 1900 in ihren damaligen Kostümen auf der Leinwand erscheinen, das Publikum in jeder Stadt, jedem Dorf Europas oder Amerikas unisono in unaufhaltsame Heiterkeit ausbricht. Als Karikaturen belachen auch die naivsten Menschen von heute diese sonderbaren Gestalten von gestern – als unnatürlich, unbequem, unhygienisch, unpraktisch kostümierte Narren; sogar uns, die wir unsere Mütter und Tanten und Freundinnen in diesen absurden Roben noch gekannt haben, die wir selbst in unserer Knabenzeit ebenso lächerlich gewandet gingen, scheint es gespenstischer Traum, daß eine ganze Generation sich widerspruchslos solch einer stupiden Tracht unterwerfen konnte. Schon die Männermode der hohen steifen Kragen, der ›Vatermörder‹, die jede lockere Bewegung unmöglich machten, der schwarzen schweifwedelnden Bratenröcke und der an Ofenröhren erinnernden Zylinderhüte fordert zur Heiterkeit heraus, aber wie erst die ›Dame‹ von einst in ihrer mühseligen und gewaltsamen, ihrer in jeder Einzelheit die Natur vergewaltigenden Aufmachung! In der Mitte des Körpers wie eine Wespe abgeschnürt durch ein Korsett aus Fischbein, den Unterkörper wiederum weit aufgebauscht zu einer riesigen Glocke, den Hals hoch verschlossen bis an das Kinn, die Füße bedeckt bis hart an die Zehen, das Haar mit unzähligen Löckchen und Schnecken und Flechten aufgetürmt unter einem majestätisch schwankenden Hutungetüm, die Hände selbst im heißesten Sommer in Handschuhe gestülpt, wirkt dies heute längst historische Wesen ›Dame‹ trotz des Parfüms, das seine Nähe umwölkte, trotz des Schmucks, mit dem es beladen war, und der kostbarsten Spitzen, der Rüschen und Behänge als ein unseliges Wesen von bedauernswerter Hilflosigkeit. Auf den ersten Blick wird man gewahr, daß eine Frau, einmal in eine solche Toilette verpanzert wie ein Ritter in seine Rüstung, nicht mehr frei, schwunghaft und grazil sich bewegen konnte, daß jede Bewegung, jede Geste und in weiterer Auswirkung ihr ganzes Gehabe in solchem Kostüm künstlich, unnatürlich, widernatürlich werden mußte. Schon die bloße Aufmachung zur ›Dame‹ – geschweige denn die gesellschaftliche Erziehung – das Anziehen und Ausziehen dieser Roben bedeutete eine umständliche Prozedur, die ohne fremde Hilfe gar nicht möglich war. Erst mußten hinten von der Taille bis zum Hals unzählige Haken und Ösen zugemacht werden, das Korsett mit aller Kraft der bedienenden Zofe zugezogen, das lange Haar – ich erinnere junge Leute daran, daß vor dreißig Jahren außer ein paar Dutzend russischer Studentinnen jede Frau Europas ihr Haar bis zu den Hüften entrollen konnte – von einer täglich berufenen Friseuse mit einer Legion von Haarnadeln, Spangen und Kämmen unter Zuhilfenahme von Brennschere und Lockenwicklern gekräuselt, gelegt, gebürstet, gestrichen, getürmt werden, ehe man sie mit den Zwiebelschalen von Unterröcken, Kamisolen, Jacken und Jäckchen so lange umbaute und gewandete, bis der letzte Rest ihrer fraulichen und persönlichen Formen völlig verschwunden war. Aber dieser Unsinn hatte seinen geheimen Sinn. Die Körperlinie einer Frau sollte durch diese Manipulationen so völlig verheimlicht werden, daß selbst der Bräutigam beim Hochzeitsmahl nicht im entferntesten ahnen konnte, ob seine zukünftige Lebensgefährtin gerade oder krumm gewachsen war, füllig oder mager, kurzbeinig oder langbeinig; diese ›moralische‹ Zeit betrachtete es auch keineswegs als unerlaubt, zum Zwecke der Täuschung und zur Anpassung an das allgemeine Schönheitsideal künstliche Verstärkungen des Haars, des Busens oder anderer Körperteile vorzunehmen. Je mehr eine Frau als ›Dame‹ wirken sollte, um so weniger durften ihre natürlichen Formen erkennbar sein; im Grunde diente die Mode mit diesem ihrem absichtlichen Leitsatz doch nur gehorsam der allgemeinen Moraltendenz der Zeit, deren Hauptsorge das Verdecken und Verstecken war.

      Aber diese weise Moral vergaß völlig, daß, wenn man dem Teufel die Tür versperrt, er sich meist durch den Rauchfang oder eine Hintertür Einlaß erzwingt. Was unserem unbefangenen Blick heutigen Tages an diesen Trachten auffällt, die verzweifelt jede Spur nackter Haut und ehrlichen Wuchses verdecken wollten, ist keineswegs ihre Sittlichkeit, sondern im Gegenteil, wie bis zur Peinlichkeit provokatorisch jene Mode die Polarität der Geschlechter herausarbeitete. Während der junge Mann und die junge Frau unserer Zeit, beide hochgewachsen und schlank, beide bartlos und kurzen Haars, schon an ihrer äußeren Erscheinung sich kameradschaftlich einander anpassen, distanzierten sich in jener Epoche die Geschlechter, so sehr sie es nur vermochten. Die Männer trugen lange Bärte zur Schau oder zwirbelten zum mindesten einen mächtigen Schnurrbart als weithin erkennbares Attribut ihrer Männlichkeit empor, während bei der Frau das Korsett das wesentlich weibliche Geschlechtsmerkmal des Busens ostentativ sichtbar machte. Überbetont war das sogenannte starke Geschlecht gegenüber dem schwachen Geschlecht auch in der Haltung, die man von ihm verlangte, der Mann forsch, ritterlich und aggressiv, die Frau scheu, schüchtern und defensiv, Jäger und Beute, statt gleich und gleich. Durch diese unnatürliche Auseinanderspannung im äußeren Habitus mußte auch die innere Spannung zwischen den Polen, die Erotik, sich verstärken, und so erreichte dank ihrer unpsychologischen Methode des Verhüllens und Verschweigens die Gesellschaft von damals genau das Gegenteil. Denn da sie in ihrer unablässigen Angst und Prüderie dem Unsittlichen in allen Formen des Lebens, Literatur, Kunst, Kleidung ständig nachspürte, um jede Anreizung zu verhüten, war sie eigentlich gezwungen, unablässig an das Unsittliche zu denken. Da sie ununterbrochen forschte, was unpassend sein könnte, befand sie sich in einem unablässigen Zustand des Aufpassens; immer schien der damaligen Welt der ›Anstand‹ in tödlicher Gefahr: bei jeder Geste, bei jedem Wort. Vielleicht wird man heute noch verstehen, daß es in jener Zeit als Verbrechen gegolten, wenn eine Frau bei Sport oder Spiel eine Hose angelegt hätte. Aber wie die hysterische Prüderie begreiflich machen, daß eine Dame das Wort ›Hose‹ damals überhaupt nicht über die Lippen bringen durfte? Sie mußte, wenn sie schon der Existenz eines so sinnengefährlichen Objekts wie einer Männerhose überhaupt Erwähnung tat, dafür das unschuldige ›Beinkleid‹