Die Welt von Gestern. Stefan Zweig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Zweig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750242388
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über das Dilettantische hinaus und näherte sich bei einzelnen wirklich gültiger Leistung, was sich schon dadurch bewies, daß unsere Produktionen nicht etwa nur von obskuren Provinzblättchen, sondern von führenden Revuen der neuen Generation angenommen, gedruckt und – dies der überzeugendste Beweis – sogar honoriert wurden. Einer meiner Kameraden, Ph. A., den ich wie einen Genius vergötterte, glänzte an erster Stelle im ›Pan‹, der großartigen Luxuszeitschrift, neben Dehmel und Rilke, ein anderer, A. M., hatte unter dem Pseudonym ›August Oehler‹ Eingang gefunden in die unzugänglichste, eklektischste aller deutschen Revuen, in die ›Blätter für die Kunst‹, die Stefan George ausschließlich seinem geheiligten siebenmal gesiebten Kreise vorbehielt. Ein dritter schrieb, von Hofmannsthal ermutigt, ein Napoleondrama, ein vierter eine neue ästhetische Theorie und bedeutsame Sonette; ich selbst hatte in der ›Gesellschaft‹, dem führenden Blatt der Moderne, und in Maximilian Hardens ›Zukunft‹, dieser für die politische und kulturelle Geschichte des neuen Deutschlands entscheidenden Wochenschrift, Eingang gefunden. Sehe ich heute zurück, so muß ich ganz objektiv bekennen, daß die Summe unseres Wissens, die Verfeinerung unserer literarischen Technik, das künstlerische Niveau für Siebzehnjährige ein wirklich erstaunliches war und nur erklärlich durch das anfeuernde Beispiel jener phantastischen Frühreife Hofmannsthals, das uns, um nur halbwegs voreinander zu bestehen, eine leidenschaftliche Anspannung zum Äußersten abzwang. Wir beherrschten alle Kunstgriffe und Extravaganzen und Kühnheiten der Sprache, wir hatten die Technik jeder Versform, alle Stile im Pindarischen Pathos bis zur simplen Diktion des Volkslieds in unzähligen Versuchen durchgeprobt, wir zeigten im täglichen Tausch unserer Produktionen uns gegenseitig die flüchtigsten Unstimmigkeiten und diskutierten jede metrische Einzelheit. Während unsere braven Lehrer noch ahnungslos unsere Schulaufsätze mit roter Tinte auf fehlende Beistriche anzeichneten, übten wir einander Kritik mit einer Strenge, einer Kunstkenntnis und Akribie wie keiner der offiziellen Literaturpäpste unserer großen Tageblätter an den klassischen Meisterwerken; auch ihnen, den schon bestallten und berühmten Kritikern, waren wir in den letzten Schuljahren durch unseren Fanatismus weit an fachlichem Urteil und stilistischer Ausdrucksfähigkeit vorausgekommen.

      Diese wirklich wahrheitsgetreue Schilderung unserer literarischen Frühreife könnte vielleicht zu der Meinung verleiten, wir seien eine besondere Wunderklasse gewesen. Aber durchaus nicht. In einem Dutzend Nachbarschulen war damals in Wien das gleiche Phänomen gleichen Fanatismus und gleicher frühreifer Begabung zu beobachten. Das konnte kein Zufall sein. Es war eine besonders glückliche Atmosphäre, bedingt durch den künstlerischen Humus der Stadt, die unpolitische Zeit, die drängende Konstellation geistiger und literarischer Neuorientierung um die Jahrhundertwende, die sich in uns chemisch dem immanenten Produktionswillen verband, der eigentlich dieser Lebensstufe beinahe zwanghaft zugehörig ist. Im Alter der Pubertät geht das Dichterische oder der Antrieb zum Dichterischen eigentlich durch jeden jungen Menschen, freilich meist nur wie eine flüchtige Welle, und es ist selten, daß solche Neigung die Jugend überlebt, da sie ja selbst nur Emanation der Jugend ist. Von unseren fünf Schauspielern auf der Schulbank ist später keiner auf der wirklichen Bühne ein Schauspieler geworden, die Dichter des ›Pan‹ und der ›Blätter für die Kunst‹ F1 versandeten nach diesem erstaunlichen ersten Anschwung als biedere Rechtsanwälte oder Beamte, die vielleicht heute melancholisch oder ironisch ihre einstigen Ambitionen belächeln – ich bin der einzige unter ihnen allen, in dem die produktive Leidenschaft angehalten hat und dem sie Sinn sowie Kern eines ganzen Lebens geworden ist. Aber wie dankbar gedenke ich noch jener Kameradschaft! Wieviel hat sie mir geholfen! Wie haben diese feurigen Diskussionen, dies wilde Überbieten, dies gegenseitige Sich-Bewundern und Sich-Kritisieren mir Hand und Nerv frühzeitig geübt, wieviel Ausblick und Überblick auf den geistigen Kosmos gegeben, wie beschwingt uns alle über die Öde und Tristheit unserer Schule emporgehoben! ›Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden ...‹, immer, wenn das unsterbliche Schubertlied anklingt, sehe ich in einer Art plastischer Vision uns auf unseren jämmerlichen Schulbänken mit gedrückten Schultern und dann auf dem Heimweg strahlenden, erregten Blickes, Gedichte kritisierend, rezitierend, leidenschaftlich alle Gebundenheit an Raum und Zeit vergessend, wahrhaft ›in eine bessere Welt entrückt‹.

      Eine solche Monomanie des Kunstfanatismus, eine derart bis ins Absurde getriebene Überbewertung des Ästhetischen konnte sich natürlich nur auf Kosten der normalen Interessen unseres Alters ausleben. Wenn ich mich heute frage, wann wir die Zeit fanden, alle diese Bücher zu lesen, überfüllt wie unser Tag schon war mit Schul- und Privatstunden, so wird mir klar, daß es gutenteils zum Schaden unseres Schlafs und damit unserer körperlichen Frische geschah. Daß ich, obwohl ich morgens um sieben Uhr aufzustehen hatte, je vor ein oder zwei Uhr nachts meine Lektüre aus der Hand gelegt hätte, kam niemals vor – eine schlechte Gewohnheit, die ich übrigens damals für immer annahm, selbst zur spätesten Nachtzeit noch eine Stunde oder zwei zu lesen. So kann ich mich nicht erinnern, je anders als unausgeschlafen und höchst mangelhaft gewaschen in letzter Minute zur Schule gejagt zu sein, das Butterbrot im Laufen verzehrend; kein Wunder, daß wir bei all unserer Intellektualität alle hager und grün aussahen wie unreifes Obst, überdies in der Kleidung ziemlich verwahrlost. Denn jeder Heller unseres Taschengeldes ging auf für Theater, Konzerte oder Bücher, und anderseits legten wir wenig Gewicht darauf, den jungen Mädchen zu gefallen, wir, die wir doch höheren Instanzen zu imponieren gedachten. Mit jungen Mädchen spazierenzugehen, schien uns verlorene Zeit, da wir in unserer intellektuellen Arroganz das andere Geschlecht von vornherein für geistig minderwertig hielten und unsere kostbaren Stunden nicht mit flachem Geschwätz vertun wollten. Einem jungen Menschen von heute begreiflich zu machen, bis zu welchem Grade wir alles Sportliche ignorierten und sogar verachteten, dürfte nicht leicht sein. Allerdings war im vorigen Jahrhundert die Sportwelle noch nicht von England auf unseren Kontinent herübergekommen. Es gab noch kein Stadion, wo hunderttausend Menschen vor Begeisterung tobten, wenn ein Boxer dem anderen die Faust in die Kinnlade schmetterte; die Zeitungen sandten noch nicht Berichterstatter, damit sie mit homerischem Aufschwung über ein Hockeyspiel spaltenlang berichteten. Ringkämpfe, Athletenvereine, Schwergewichtsrekorde galten zu unserer Zeit noch als eine Angelegenheit der äußeren Vorstadt, und Fleischermeister und Lastträger bildeten ihr eigentliches Publikum; höchstens der edlere, aristokratischere Rennsport lockte, ein paarmal im Jahre, die sogenannte ›gute Gesellschaft‹ auf den Rennplatz, nicht aber uns, denen jede körperliche Betätigung als blanker Zeitverlust erschien. Mit dreizehn Jahren, als jene intellektuell-literarische Infektion bei mir begann, stellte ich das Eislaufen ein, verwandte das von den Eltern mir für eine Tanzstunde zugebilligte Geld für Bücher, mit achtzehn konnte ich noch nicht schwimmen, nicht tanzen, nicht Tennis spielen; noch heute kann ich weder radfahren noch chauffieren, und in sportlichen Dingen vermag jeder Zehnjährige mich zu beschämen. Selbst heute, 1941, ist mir der Unterschied zwischen Baseball und Fußball, zwischen Hockey und Polo höchst unklar, und der Sportteil einer Zeitung erscheint mir mit seinen unerklärlichen Chiffren chinesisch geschrieben. Ich bin gegenüber allen sportlichen Geschwindigkeits- oder Geschicklichkeitsrekorden unentwegt auf dem Standpunkt des Schahs von Persien stehengeblieben, der, als man ihn animieren wollte, einem Derby beizuwohnen, orientalisch weise äußerte: »Wozu? Ich weiß doch, daß ein Pferd schneller laufen kann als das andere. Welches, ist mir gleichgültig.« Ebenso verächtlich, wie unseren Körper zu trainieren, schien es uns, Zeit mit Spiel zu vergeuden; einzig das Schach fand einige Gnade vor unseren Augen, weil es geistige Anstrengung erforderte; und – sogar noch absurder –, obwohl wir uns als werdende oder immerhin potentielle Dichter fühlten, kümmerten wir uns wenig um die Natur. Während meiner ersten zwanzig Jahre habe ich so gut wie nichts von der wundervollen Umgebung Wiens gesehen; die schönsten und heißesten Sommertage, wenn die Stadt verlassen war, hatten für uns sogar einen besonderen Reiz, weil wir dann in unserem Kaffeehaus die Zeitungen und Revuen rascher und reichhaltiger bekamen. Ich habe noch Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um das Gleichgewicht gegen diese kindisch-gierige Überspannung wiederzufinden und die unvermeidliche körperliche Ungeschicklichkeit einigermaßen wettzumachen. Aber im ganzen habe ich diesen Fanatismus, dieses nur durch das Auge, nur durch die Nerven leben meiner Gymnasialzeit nie bereut. Es hat mir eine Leidenschaftlichkeit zum Geistigen ins Blut getrieben, die ich nie mehr verlieren möchte, und alles, was ich seitdem gelesen und gelernt, steht auf dem gehärteten Fundament jener Jahre. Was man an seinen Muskeln versäumt hat, holt sich später noch nach; der Aufschwung zum Geistigen, die innere Griffkraft der Seele dagegen, übt sich einzig in jenen