Auf Biegen oder Brechen. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750218949
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Börner unsicher.

      Nun sah Heinz nicht mehr überrascht aus. "Von mir aus", sagte er gleichgültig; und als sie den Hauptbahnhof erreicht hatten, widersprach er nicht, als Börner meinte, er könne wohl doch nicht am Abend wieder nach Essen kommen. Er wolle lieber zu Hause bleiben.

      Sie verabschiedeten sich, und Börner war froh, als Heinz endlich im Betrieb der Empfangshalle verschwunden war. Er wollte ihn nicht mehr wiedersehen.

      Börner schaute auf den Abfahrtsplan; es machte ihm Schwierigkeiten, die Zahlen, Rubriken und Buchstaben in eine sinnvolle und überschaubare Ordnung zu bringen und sie mit seiner augenblicklichen Situation zu koordinieren. Gereizt sah er auf seine Armbanduhr; es war zwei Minuten nach acht. Mit dem Zeigefinger verfolgte er die Reihe der Abfahrtszeiten. Schließlich hatte er herausgefunden, dass um 8 Uhr 7 der nächste Zug nach Gelsenkirchen fuhr.

      Börner wusste, dass er sich beeilen musste, und genau dazu hatte er keine Lust. Er überlegte, den nächsten Zug zu nehmen. Er konnte dann ja von hier aus im Büro anrufen. Aber wann fuhr der nächste Zug? Noch immer deutete sein Zeigefinger auf die Abfahrtszeit 8 Uhr 7 hin. Es war zu anstrengend, den nächsten Zug herauszusuchen. Auf jeden Fall war es notwendig, früh genug im Büro anzurufen: Niemand sollte denken, er habe verschlafen und wolle blau machen. Was sollte er machen: Sofort abfahren? Den nächsten Zug nehmen? Jetzt sofort anrufen? Er wusste es einfach nicht. Nur sofort im Büro anrufen, das wollte er nicht. Hilflos und wütend sah er auf die ganz rechte Rubrik des Fahrplans: Gleis 21.

      Schon als er loslief, war er davon überzeugt, dass die Angabe falsch war, dass er in die verkehrte Reihe geschaut hatte. Dennoch lief er weiter und erreichte atemlos den Bahnsteig.

      Eine Gruppe junger Leute sah zu ihm herüber. Oder hatte er nur gedacht, sie hätten zu ihm hergeschaut? Der Zug stand schon bereit; es war ein Nahverkehrszug von Essen nach Haltern, und nun sah Börner die große Uhr unter der Überdachung des Bahnsteigs: Es war drei Minuten nach acht. Ging seine Uhr falsch? Oder war er so schnell gelaufen? Hatten die jungen Leute wegen seiner ganz überflüssigen Eile gelacht? Plötzlich fühlte Börner sich unwohl. Man musste ihm doch ansehen, dass er noch betrunken war. In der Enge des Zuges musste man seine Fahne riechen können. Dann war er froh, dass dieser Nahverkehrszug keine Abteile hatte: In dem größeren Raum würde seine Fahne nicht so schnell auffallen. Aber in einem Zug mit Abteilen könnte er die kurze Strecke auf dem Gang verbringen und das Fenster öffnen. Er wollte nun doch noch einmal auf dem Plan nach einem späteren Zug sehen, blieb unschlüssig stehen, und als der Bahnhofslautsprecher die Abfahrt des Zuges ankündigte, sprang er überstürzt in den Zug. Er war überzeugt davon, dass andere sich nun über ihn amüsierten.

      Als er in Gelsenkirchen ausstieg, hatte er entsetzliche Kopfschmerzen. Schon direkt nach der Abfahrt des Zuges hatten sich Leute neben ihn gesetzt, und er hatte kaum noch zu atmen gewagt und angestrengt aus dem Fenster gesehen. Der Geruch des Rasierwassers eines gut gekleideten Mannes neben ihm hatte bei ihm einen extremen Brechreiz ausgelöst. Es gab nichts Ekelhafteres als diese glattrasierten Männer mit Anzug und Aktentasche, die morgens in irgendein Büro fuhren und nach Rasierwasser stanken. Er hatte nicht mehr gewusst, wann er aufstehen sollte und war plötzlich davon überzeugt gewesen, dass er die Tür des Waggons nicht würde öffnen können.

      Vom Bahnsteig lief er schnell zu den Gleisen der Stadtbahn, weil er auf keinen Fall durch die Stadt gehen wollte. Dann fuhr er mit der Rolltreppe wieder nach oben: In der Straßenbahn würde er ersticken.

      Als er zu Hause war, war es kurz vor neun. Wenn er nun im Büro anrief, mussten sie doch denken, er habe verschlafen und wolle nur nicht zum Dienst kommen. Gar nicht anzurufen, wagte er nicht. Börner fühlte eine unbändige Wut in sich hochsteigen, und kaum war die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen, griff er zum Telefonhörer. Am besten würde er sagen, dass er gar nicht mehr käme.

      Als er wieder auflegte, hoffte er, nicht zu unfreundlich gewesen zu sein. Die Kollegin war so unerwartet freundlich gewesen, hatte ihm sogar gute Besserung gewünscht.

      Offensichtlich machte er alles falsch.

      Vielleicht hatte sie es aber auch ironisch gemeint.

      Er warf sich auf sein Bett und schlief sofort ein.

      12

      Gegen die Kopfschmerzen beim Erwachen nahm er Aspirin. Gegen das schlechte Gewissen, das wusste er aus Erfahrung, half Aspirin nicht. Letztlich konnte er sich nicht damit abfinden, dass er soff, und irgendwelche heroischen Entschlüsse, sich zu bessern, waren der erste Schritt dazu, sich noch am gleichen Tag wieder zu besaufen.

      Manchmal gelang es ihm allerdings, sein schlechtes Gewissen einfach nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen: Das war eben passiert, es war nicht mehr zu ändern und damit basta.

      Noch vor einiger Zeit hätte er Heinz Behrend gegenüber am nächsten Tag ein schlechtes Gewissen gehabt; jetzt wollte er es einfach nicht. Natürlich war er egoistisch gewesen. Er hatte es von Anfang an darauf angelegt, sich von Heinz einen blasen zu lassen; dessen sexuelle Wünsche hatten ihn nicht interessiert. Dieser ganze Mensch interessierte ihn überhaupt nicht. Jeder musste selber sehen, wo er blieb. Blasen oder blasen lassen, ficken oder gefickt werden, darum ging es, das war die Wahl, die man treffen musste. Ob man dabei glücklich wurde oder nicht, hing von der eigenen Wahl ab.

      In den letzten Monaten hatte er des öfteren Leute in Schwulenkneipen und anderswo angemacht, die ihn gar nicht interessiert hatten, und schon auf dem Weg zu seiner Wohnung hatte er sich überlegt, was er mit ihnen machen wollte. Was solche Leute mit ihm machen wollten, weshalb sie überhaupt mitgingen, das war schließlich nicht sein Problem.

      Einen dieser zufälligen Bekannten hatte er gebumst. Gerade weil der das nicht gewollt und sich lange dagegen gewehrt hatte, hatte er es getan. Am nächsten Morgen hatte er auch diese Rücksichtslosigkeit auf seine Sauferei schieben wollen, aber natürlich stimmte das nicht. Noch wochenlang geisterte dieses Ereignis durch seine Phantasie, wurde ausgemalt und erweitert und hatte schließlich mit dem, was wirklich passiert war, nur noch wenig zu tun. In seiner Phantasie war es ihm jedes Mal vorgekommen, als könne er sich zusehen bei dem, was er tat. Und je routinierter und abgebrühter er dabei vorging, desto geiler wurde er.

      Vielleicht war es sadistisch, pervers oder sonstwas, dass man mit jemandem nicht Analverkehr hatte, sondern den anderen bumste, fickte oder aufspießte. Man konnte Stunden, Tage, ein ganzes Leben darüber nachdenken. Man konnte dann aber auch gleich die Sexualität abschaffen. Das waren klinische Begriffe, mit denen sich kaputte Spießer erklären ließen, weshalb sie im Bett nicht mehr konnten. Nicht zu können war seine größte Angst. Vor ein paar Wochen noch hatte er einem Bekannten erzählt: Den Sowieso, klar, den habe ich auch schon gefickt.

      Aber alles hielt sich ja letztlich die Waage: Er dachte an Milewski, seinen ehemaligen Kollegen bei der Polizei: Wenn er im Büro neben dem gesessen hatte, hatte er ja an nichts anderes mehr denken können als daran, vor Milewski zu knien und an dessen Schwanz zu saugen. Tausendmal hatte er sich in seiner Phantasie diese Szene vorgestellt. In allen Details. Einer wie Milewski könnte alles mit ihm machen, alles. Und bis zum letzten Atemzug würde er Milewski dafür hassen, dass der der Stärkere war, dass er etwas hatte, was genau in seine eigenen psychischen Macken passte.

      So einfach war das alles.

      Jedenfalls für ihn. Vielleicht waren andere Schwule anders, vielleicht war er unter Perversen ganz besonders pervers. Es war ihm völlig gleichgültig. Wer oder was war schon normal, und wer oder was war schon schwul? Irgendwelche Bemühungen um Solidarität unter Schwulen, Versuche, sich als diskriminierte Minderheit zu emanzipieren, hatte Börner seit eh und je als überflüssiges Gequatsche verstanden. Mit ihm, mit seinen konkreten Problemen hatte das nie etwas zu tun gehabt, wenn irgendwelche exaltierten Tucken in Fußgängerzonen Flugblätter gegen die Schwulendiskriminierung verteilten und sich vor einem in der Regel völlig gleichgültigen Publikum abknutschten, als wollten sie so ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Gequirlte Scheiße war so etwas. Sie hatten Angst vor einer Sexualität, die nun einmal nicht auf ein Flugblatt passte. Börner nahm noch eine Aspirin; er fühlte sich unerträglich unruhig.

      Manchmal sehnte er sich nach einer Welt