Die Frau vom Schwarzen See. Anna-Irene Spindler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna-Irene Spindler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750215788
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Marieles Beerdigung hatte sie den Priester nicht mehr gesehen. Im Grunde genommen war er ein Fremder für sie. Warum also sollte sie ihm von ihren Sorgen erzählen? Warum ihm ihr Herz ausschütten? Gut, er war heute Abend in das Bordell gekommen. Um mit ihr zu plaudern, wie er gesagt hatte. Aber interessierte er sich wirklich für sie? Oder war er vielleicht nur gekommen, um zu schauen, ob sie nicht doch als Freudenmädchen arbeitete? Andererseits hatte er ihr in der Nacht, in der Mariele gestorben war, ohne zu zögern geholfen. Vielleicht meinte er es ja tatsächlich gut mit ihr.

      „Wie ich zurechtkomme? Mehr recht als schlecht“, begann sie. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Ich habe noch Niemanden gefunden, der sich mit mir das Zimmer teilen möchte. Die Nächstbeste, die auf der Straße wartet, will ich nicht fragen. Sie würde mir wahrscheinlich bei der ersten Gelegenheit den Garaus machen, um an meine dürftige Habe zu kommen. Die Frauen in der Wäscherei haben alle Familie. Und La Rosarias Mädchen brauchen keine Unterkunft. Sie wohnen alle im Hotel Rosaria. Ansonsten kenne ich Keinen. Ich arbeite jeden Tag siebzehn Stunden, da habe ich keine Zeit Bekanntschaften zu schließen. Für die Aprilmiete musste ich schon ein bisschen was von unserem Ersparten nehmen. Nun ist schon mehr als die Hälfte des Monats vorbei und mir fehlen immer noch fünfzehn Dollar für die nächste Miete. Wenn es so weiter geht, werde ich wieder auf die Reserve zurückgreifen müssen. Für Essen kann ich so gut wie nichts erübrigen. Wenn ich aus dem Bordell keine Essensreste mitnehmen kann, habe ich kaum mehr als eine Scheibe Brot am Tag. Ich bin nicht am Verhungern, aber ich gehe oft mit knurrendem Magen ins Bett.“

      Sie machte eine kurze Pause und sah den Priester von der Seite an.

      „Bis jetzt ist es mir gelungen, ehrlich zu bleiben. Ich musste weder stehlen um zu überleben, noch meinen Körper verkaufen. Wie lange ich das noch durchhalte, weiß ich nicht. Aber hey! Sind nicht Sie es, der für einen Verein arbeitet, der an Wunder glaubt?“

      Beim letzten Satz stieß sie Father Gregory mit dem Ellbogen leicht in die Rippen und lachte.

      „Allerdings. Und wer weiß. Vielleicht ist das Wunder ja schon eingetreten.“ „Was meinen Sie damit?“

      „Es gibt eine Möglichkeit, wie du auf einen Schlag alle deine Sorgen los wirst und dieses elende Dasein hinter dir lassen kannst.“

      Ungläubig sah Agnes den Priester an. „Sie machen sich über mich lustig.“

      „Nein. Ich meine es vollkommen ernst. Allerdings musste du mitmachen, damit das Wunder funktioniert.“

      Wie von der Tarantel gestochen schoss Agnes in die Höhe. Mit bösem Blick sah sie auf den Priester hinunter.

      „Ich versuche doch nicht mit aller Macht ehrlich zu bleiben, nur um dann zu Ihnen ins Bett zu steigen“, fauchte Agnes aufgebracht. „Pfui Teufel Father, schämen Sie sich!“

      Father Gregorys schallendes Gelächter hallte durch die Anthony Street.

      „Du bist ja wie die ehrenwerten Matronen meiner Gemeinde. Ehrbarkeit auf den Lippen, Unmoral in den Gedanken“, neckte er sie.

      Dann fuhr er mit ernster Miene fort: „Deine Ehrbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass das Wunder eintritt.“ Agnes runzelte die Stirn.

      „Ich habe keine Ahnung wovon Sie reden“, sagte sie.

      „Komm, setz dich wieder. Ich werde es dir erklären. Du musst mir aber versprechen, mich nicht zu unterbrechen. Wenn ich fertig bin, werde ich alle deine Fragen beantworten. In Ordnung?“

      „In Ordnung“, brummte Agnes und setzte sich wieder neben den Priester auf die Kirchenstufen.

      „Ich habe einen sehr guten Freund. Er ist ebenfalls Priester. Wir sind gemeinsam aus Irland gekommen. Im Gegensatz zu mir kam er von einem Bauernhof. Das Leben in New York machte ihn krank. Vor acht Jahren schloss er sich einem Siedlertreck an, der nach Westen zog. Es hat ihn nach Kanada verschlagen. Er ist Pfarrer in Cudeca, einer kleinen Ansiedlung nicht weit hinter der amerikanischen Grenze. Trotz der langen Zeit ist unser Kontakt nicht abgerissen. Vor vier Tagen habe ich wieder Post von ihm bekommen. Er hat mir geschrieben, dass in der Gegend um Cudeca akuter Frauenmangel herrscht.“

      Father Gregory spürte, wie sich die Frau an seiner Seite versteifte. Beruhigend tätschelte er ihr Knie.

      „Nicht was du denkst. Viele Männer sind auf der Suche nach einer Ehefrau. Einer von ihnen hat sich an ihn gewendet. Er hat ihn gebeten an mich zu schreiben und zu bitten, nach einer geeigneten Frau Ausschau zu halten. Der Mann hat wohl eine Farm außerhalb von Cudeca, die er gemeinsam mit einer tüchtigen Frau bewirtschaften will.“

      Father Gregory betrachtete Agnes. Er hatte erwartet, dass sie sofort loslegen würde. Aber sie war völlig perplex. Sie kam sich vor, als hätte sie jemand mit eiskaltem Wasser überschüttet. Es dauerte eine ganze Weile ehe sie etwas herausbrachte.

      „Wieso gerade ich?“, stammelte sie.

      „Mein Freund, Father Timothy Walsh hat geschrieben, dass für den Farmer vier Dinge ganz wichtig wären. Die Frau müsste anständig, tüchtig und gesund sein. Aber das Wichtigste wäre für ihn die Herkunft. Seine zukünftige Ehefrau sollte aus dem Böhmerwald kommen. Da deine Freundin Mariele aus dem Böhmerwald war, nehme ich an, dass du auch aus dieser Gegend kommst. Du bist eine ehrbare Frau. Du bist gesund und kannst hart arbeiten. Und du kommst aus der richtigen Gegend. Also bist du genau die Richtige für den Mann.“

      „Aber ich kann doch nicht quer durch halb Amerika fahren um einen Mann zu heiraten, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Womöglich will er mich dann gar nicht und ich sitze irgendwo in der Wildnis fest. Nein, Father! Nicht mit mir!“

      „Du würdest selbstverständlich erst aufbrechen, wenn du mit ihm verheiratet bist“, antwortete der Priester.

      „Heißt das, er kommt her und ich lerne ihn kennen?“

      „Nein. Es würde eine Ferntrauung geben.“

      „Eine Ferntrauung? Was ist das?“ Agnes war verwirrt.

      „Eine Ferntrauung ist eine Möglichkeit, dass zwei Menschen über eine große Entfernung hinweg heiraten können.“

      „Und wie soll das gehen?“, fragte Agnes.

      „Der Mann, er heißt übrigens Andreas Mundl, würde vor Father Timothy sein Ehegelübde ablegen und ein offizielles Dokument unterschreiben. Dieses Papier lege ich dir vor. Wenn du mit dem, was da steht einverstanden bist, legst du ebenfalls vor mir ein Eheversprechen ab und unterschreibst das Dokument auch. Damit seid ihr dann rechtskräftig vor dem Gesetz und vor Gott Mann und Frau. Wenn du mit diesem Dokument nach Cudeca fährst, kann dich Mr Mundl nicht wieder heimschicken.“

      „Aber das ändert nichts daran, dass ich ihn nicht kenne. Er könnte ein unehrlicher Lump sein. Uralt, boshaft und gewalttätig. Ein arbeitsfauler Säufer, der nur eine billige Arbeitskraft braucht.“

      Father Gregory konnte ihre Einwände nur zu gut verstehen. Häusliche Gewalt war auch in seiner Gemeinde an der Tagesordnung. Treue, hart arbeitende Frauen wurden oft genug von ihren betrunkenen Männern grün und blau geprügelt.

      „Ich kann natürlich nur das weitergeben, was Timothy mir geschrieben hat. Aber er schildert Andreas Mundl als ordentlichen, ruhigen und sehr fleißigen Mann, der nur selten einen über den Durst trinkt. Da er selbst aus Böhmen kommt, soll seine Frau auch aus dieser Gegend stammen. Er ist 32 Jahre alt, schreibt Timothy. Also noch nicht uralt.“

      Nachdenklich starrte Agnes auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Das was Father Gregory da erzählte klang so unwirklich und irgendwie nicht richtig. Einen Mann zu heiraten, der tausende von Meilen entfernt war. Den man nie gesehen hatte. Von dem man nur das weiß, was ein anderer Mann geschrieben hatte, den man auch nicht kannte. Was für eine vollkommen verrückte Idee! Entschlossen stand Agnes auf.

      „Danke, dass Sie an mich gedacht haben Father. Aber das ist nichts für mich. Ich bin mitten im tiefsten Winter bei Eiseskälte aus dem Fenster gestiegen, um den Nachstellungen des Bauern zu entkommen, für den ich gearbeitet habe. Ich wollte selbst über mein Leben bestimmen. Deshalb bin ich nach Amerika gekommen.“