„Wenn du möchtest, lasse ich dich jetzt mit deiner Freundin allein. Dann kannst du dich in Ruhe von ihr verabschieden.“
„Danke, Father. Aber das ist nicht nötig. Wie Sie gesagt haben: ER wird sie mit offenen Armen empfangen. Das ist alles was zählt.“
Sie kniete sich neben Mariele auf die Altarstufen, küsste sie auf die Stirn und flüsterte: „Danke für Alles! Ich werde dich nie vergessen!“
Als sie sich erhob, nickte sie Father Gregory zu: „Wir sehen uns morgen.“
Langsam schritt sie den Mittelgang der Kirche entlang. Am Eingangsportal warf sie noch einen letzten Blick zurück. Father Gregory hatte sich vor den Altar gekniet und betete mit gesenktem Kopf. Im schwachen Licht der flackernden Kerzen war Marieles Blut besudeltes Kleid nicht zu erkennen. Ruhig und friedlich lag sie da. So als würde sie schlafen.
Pünktlich um fünf Uhr betrat Agnes am nächsten Nachmittag wieder die St. Anthony Church. Sie hatte kein schwarzes Kleid. In der Wäscherei hatte sie sich von einem schwarzen Putzlumpen einen Streifen abgerissen und ihn wie eine Rosette an das Oberteil ihres derben grauen Arbeitskleides genäht. Als die anderen Waschfrauen von Marieles Schicksal erfuhren, legten sie zusammen und kauften bei einem chinesischen Händler in der Nachbarschaft für zehn Cent einen Strauß aus weißen Papierblumen für das Grab. Mit diesem Strauß in der Hand stellte sie sich neben die einfache Holzkiste, die nun die sterblichen Überreste ihrer Freundin vor den Augen der Welt verbarg. Außer ihr waren noch zwei alte Frauen da, die vermutlich zu jeder Beerdigung kamen, weil sie sonst nichts Besseres zu tun hatten.
Kaum hatte Father Gregory sein letztes Amen gesprochen, kamen zwei Männer mit einem einfachen Handkarren zur Seitentür herein. Sie luden den Sarg auf und zogen ihn in den kleinen Friedhof hinaus, der neben der Kirche lag. Father Gregory, Agnes und die beiden alten Frauen gingen schweigend hinterher. Als der Sarg langsam in die ausgehobene Grube hinunter gelassen wurde, konnte Agnes die Tränen nicht mehr zurück halten. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte nicht zu weinen, flossen sie unablässig über ihre Wangen. Mariele war so mutig und voller Lebensfreude gewesen. Nun würde sie unter einer vier Fuß dicken Erdschicht begraben liegen. Und mit ihr alle Träume von einer besseren Zukunft in einer besseren Welt.
Agnes weinte nicht nur um die tote Freundin. Sie weinte auch, weil sie nur so die schreckliche Angst verdrängen konnte, die seit dem gestrigen Abend wie ein dicker, hässlicher Kloß in ihrem Magen hockte. Die Angst davor, was die Zukunft bringen würde. Ohne Marieles Verdienst konnte sie die Miete für das elende Zimmer nur gerade so aufbringen. Zum Leben blieb dann kaum noch etwas übrig. Geriet sie auch nur einen einzigen Tag mit der Zahlung in Rückstand, würde die Wirtin sie umgehend hinauswerfen. Sie wohnte schon lange genug in Five Points um zu wissen es gab keine billigeren Zimmer. Die einzige Hoffnung war, so schnell wie nur irgend möglich wieder eine Mitbewohnerin aufzutreiben. All das ging ihr durch den Kopf, während sie zusah, wie die Männer das Grab zu schaufelten. Als sie fertig waren klopften sie mit den Schaufeln noch den Grabhügel fest. Dann traten sie vor Agnes hin und hielten die Hände auf. Sie gab jedem von ihnen die versprochenen fünfzig Cent. Als sie Father Gregory die zwei Dollar für den Sarg und das Holzkreuz gab, fragte er:
„Was soll ich auf das Kreuz schreiben?“
„Marie Leschinger. Geboren 1845 in Deschenitz im Böhmerwald. Gestorben 1871 auf der Straße in Five Points.“
„Soll ich das wirklich so schreiben? Auf der Straße?“
„Ja! Es soll jeder wissen, was Five Points für ein grausiger Ort ist.“
„Gut, dann schreibe ich das so.“
Mit diesen Worten verschwand Father Gregory in der Sakristei. Auch die beiden Frauen waren schon gegangen. Andächtig steckte Agnes den Papierblumenstrauß in die Erde des Grabhügels und klopfte sie rundherum schön fest, damit nicht der nächste Windstoß die Blumen fort wehte. Dann stand sie auf, wischte sich die Erde von den Händen und machte sich auf den Weg zu La Rosaria.
April 1871
Agnes quetschte sich mit ihrem Tablett zwischen den dicht gedrängt stehenden Gästen hindurch. Die Hände der Männer waren einfach überall. An ihrem nackten Hals, an der Taille, auf ihrem Hintern und an ihrem Busen. Da es aber so viele waren, machte es keinen Sinn, irgendeinen von ihnen zurechtzuweisen. Inzwischen machte es ihr auch nichts mehr aus. Sie hatte gelernt, die obszönen Berührungen ebenso zu ignorieren, wie die unflätigen Kommentare der betrunkenen Männer. Also schob sie sich einfach an ihnen vorbei. Lediglich darauf bedacht, ihre Gläser heil nach oben zu den Séparées zu bringen. Als sie mit dem leeren Tablett die Treppe wieder herunter kam, fiel ihr ein Gesicht auf, von dem sie niemals auch nur im Entferntesten erwartet hatte, es hier zu sehen. Ein Glas Whiskey in der Hand stand Father Gregory zwischen den irischen Hafenarbeiter und unterhielt sich mit ihnen. Ein katholischer Priester aus Irland in einem italienischen Bordell! Sie hatte schon viel erlebt, seit sie in New York war, aber das war ja wirklich etwas Einmaliges. Zum Zeichen, dass auch er sie entdeckt hatte, hob er den Arm und winkte ihr zu. Da Agnes während der Arbeit nicht längere Zeit mit den Gästen plaudern durfte, zwinkerte sie ihm nur zu und zwängte sich dann weiter in Richtung Tresen.
Kurz vor Mitternacht verschwanden die Männer nach und nach mit den Mädchen nach oben in die Zimmer. Jetzt konnte Agnes mit dem Aufräumen beginnen. Während sie die Tische abputzte gesellte sich Father Gregory zu ihr.
„Ich bin sehr überrascht, Sie hier im Hotel Rosaria zu sehen Father“, sagte Agnes.
„Nun, wenn die Schafe nicht zum Hirten kommen, muss der Hirt zu den Schafen gehen“, antwortete Father Gregory.
Mit einem fröhlichen Grinsen hob er sein leeres Glas.
„Meine ziemlich stürmische Jugend im Hafenviertel von Dublin hilft mir heute dabei von den trinkfesten Iren und Italienern ernst genommen zu werden.“
„Soll ich Ihnen noch Nachschub holen?“, fragte Agnes lachend.
„Nein danke. Für heute reicht es. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht nur wegen der gottlosen Hafenarbeiter hier. Ich wollte sehen wie es dir geht und ein bisschen mit dir plaudern.“
Überrascht sah Agnes den Priester an. Seit sie in New York war, war Father Gregory die erste Person, die sich für sie interessierte und nicht für ihre Arbeitskraft oder für ihr Geld.
„Ich muss erst noch aufräumen. Danach habe ich ein bisschen Zeit. Das heißt wenn es nicht zu lange dauert. Morgen früh muss ich wieder um fünf Uhr aufstehen.“
„Ich helfe dir, dann geht es schneller.“
Ehe Agnes widersprechen konnte hatte sich Father Gregory ihr Tablett geschnappt, ging von Tisch zu Tisch und sammelte die leeren Gläser ein. La Rosaria, die seit Marieles Tod wieder selbst hinter der Bar stand, begrüßte ihn mit einem ironischen Lächeln, als er das Tablett zum Tresen brachte.
„Father Gregory, geht das Geschäft mit den verlorenen Seelen so schlecht, dass Sie einen Nebenjob brauchen?“
„Guten Abend Signora Tonelli. Nur wenn Sie gut zahlen. Meine Gemeinde hat immer Geldsorgen.“
„Aber, aber Father. Ich dachte, Sie arbeiten um Gottes Lohn“, lachte die Puffmutter. Dann zeigte sie ihm wo er die Gläser abspülen konnte.
Wie jeden Abend verließ Agnes das Hotel durch den Hinterausgang. Father Gregory wartete schon auf sie. Langsam gingen sie durch die verlassenen Straßen. Für April war es eine erstaunlich milde Nacht. Sie setzten sich auf die Stufen der St. Anthony Church.
„Nun Father, worüber wollen Sie mit mir reden?“, begann Agnes nach ein paar Minuten.
Der Priester sah sie von der Seite an. „Wie geht es dir?“
„Ich lebe noch“,