Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783750218901
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fast ausschließlich draußen ab, weil es im Haus keinen Platz zum Spielen gab. Und unter dieser Enge, diesem äußerst reduzierten Innenleben, haben wir irgendwie doch gelitten.

      Aber ich will das nicht dramatisieren; denn draußen war es natürlich auch schön, da hatten wir viele Möglichkeiten. Es gab ja - wie gesagt- noch keine Autos. In Horst-Süd hatte damals lediglich der Arzt ein Auto, und ansonsten wüßte ich gar nicht, wer dort noch mit einem Auto durch die Gegend gefahren wäre. Also gehörte die Straße uns. Und diese Straße wurde damals gerade asphaltiert, so dass wir die herrlichste Rollschuhlaufbahn hatten. Wir sind auch in den vielen Baustellen herumgeturnt und wurden dann abends oder am nächsten Tag ausgeschimpft, wenn die Bauarbeiter uns dabei erwischt hatten. Ich möchte überhaupt sagen, dass wir trotz allem eine sehr schöne und reiche Kindheit hatten. Besonders gut erinnere ich mich noch an die Zeit vor dem Weihnachtsfest. Da hat an den langen Abenden die ganze Familie zusammen gesessen, es wurde gesungen, und es wurden Geschichten erzählt. Vor allem Gespenstergeschichten, und dann war ich immer froh, dass meine Eltern bei mir waren. Was damals für uns Kinder immer eine ganz große Rolle gespielt hat, war das Gefühl der Geborgenheit.

      Wir konnten uns wirklich noch geborgen fühlen. In aller Regel waren die Frauen damals noch nicht berufstätig, sondern mussten die Familie und vor allem ihre Männer versorgen; denn wenn die von der Zeche nach Hause kamen, waren sie total fertig. In dem einen Raum, in dem sich unser gesamtes Familienleben abspielte, stand ein Sofa, und das wurde vom Vater beschlagnahmt, wenn er von der Schicht kam. Da hat er dann jeden Tag erst einmal zwei oder drei Stunden geschlafen, und wir Kinder mussten dann entweder ganz leise sein oder eben nach draußen gehen.

      - Wenn man von den Bergleuten spricht, dann sieht man immer nur die Arbeit der Männer. Der Bergbau ist eben ein typischer Männerberuf. Wie sah eigentlich der Arbeitstag einer Frau aus?

      Der war sicherlich auch sehr schwer. Die Frauen der Bergleute hatten eben nicht nur das zu versorgen, was man heute den Haushalt nennt. Die Bergleute brachten damals zum Beispiel noch ihre Arbeitskleidung zum Waschen nach Hause, und das war dann jedes Mal eine elende Plackerei, weil es Waschmaschinen noch nicht gab. Außerdem mussten die Frauen immer die Gartenarbeit verrichten und die Tiere versorgen. Auch die Ehefrauen der Bergleute hatten wirklich von morgens bis abends zu tun.

      - Sie sprachen gerade davon, dass es damals noch viel mehr gemeinsames Handeln oder Solidarität unter den Leuten gab. Spielt da nicht doch auch eine gewisse Verklärung der Vergangenheit mit, in der natürlich alles immer besser war, als es heute ist?

      Nein, das glaube ich nicht. Ich will das einmal so ausdrücken: Wenn ich an meine Kindheit in der Siedlung zurückdenke, dann kommt es mir immer noch so vor, als wenn ich dort unter lauter Verwandten gewohnt hätte. Genau so war das: jeder Mensch auf der Straße kam mir damals wie ein Verwandter vor. Das kann man heute eigentlich gar nicht mehr nachvollziehen, wie man zu fremden Menschen eine so starke Beziehung haben kann. Aber das hatte eben ganz stark mit dem Berufsleben der Bergleute zu tun; man war unter Tage aufeinander angewiesen, und das hatte Konsequenzen auch für den privaten Bereich. Hinzu kam die isolierte Situation; denn zu anderen Berufsgruppen hatten die Leute im allgemeinen gar keinen Zugang.

      Man sah diese Trennung übrigens auch in der Schule. Die Grundschule besuchten alle Kinder damals wie heute noch unabhängig vom Beruf des Vaters. Ich kann mich noch erinnern, dass wir immer sehr große Klassen hatten, zwischen 40 und 50 Kinder. Nach dem vierten Schuljahr waren dann aus meiner Klasse aber nur drei Jungen für das Gymnasium bestimmt: der Sohn des Pastors, der Sohn des Doktors, und der dritte war der Sohn eines Bergmanns. Der war allerdings auch schlauer als alle anderen zusammen, so dass man wohl gar nicht umhin konnte, ihn auch zum Gymnasium zu schicken und später studieren zu lassen. Aber dieser Junge war wirklich eine Ausnahme. Die meisten der Kinder von Bergleuten sind damals übrigens in irgendein Handwerk gegangen. Ich weiß eigentlich niemanden, der auch wieder Bergmann geworden ist. Denn das haben die Bergleute - und auch mein Vater - immer gesagt: Meine Kinder sollen einmal etwas Besseres werden. Auf keinen Fall sollen sie auch Bergleute werden, es ist viel zu schwer und zu gefährlich, da unten zu arbeiten.

      Damals konnte ich mir das allerdings noch gar nicht so recht vorstellen; aber vor ein paar Jahren bin ich mit der Gruppe der Gelsenkirchener Autoren einmal auf der Zeche „Consol“ eingefahren, und da war ich allein schon durch die Grubenbesichtigung völlig erschöpft. Für mich war das eine ganz wichtige Erfahrung; denn bei dieser Grubenfahrt habe ich mich meinem verstorbenen Vater sehr nahe gefühlt. Ich habe plötzlich verstanden, was er zeit seines Lebens für uns geleistet hat.

      Das Schlimmste für mich war die Dunkelheit in der Grube. Ich habe vorher gar nicht gewusst, dass es eine solche Dunkelheit überhaupt gibt. Als wir wieder nach oben kamen, habe ich den jungen Bergleuten gesagt: Wenn mein Mann Bergmann wäre, dann würde ich den nur noch verwöhnen. Doch, das war so; mir taten diese Leute plötzlich leid.

      - Im Augenblick sieht es um den deutschen Bergbau nicht sehr gut aus. Glauben Sie noch an eine Zukunft des Bergbaus, oder ist das alles nicht schon Geschichte?

      Es ist schon sehr traurig, dass in einer Stadt wie Gelsenkirchen, die immer vom Bergbau gelebt hat, davon kaum noch etwas existiert. Und ob dieser Rest noch eine Zukunft hat, das kann ich nicht sagen. Es ist aber eine Tatsache, dass man in der Vergangenheit in Gelsenkirchen nie sonderlich stolz darauf war, eine Bergarbeiterstadt zu sein. Unsere Stadtväter haben sich doch zeitweilig geradezu geniert, von der „Stadt der tausend Feuer“ zu reden. Das finde ich schlimm; man hat zur eigenen Identität oft gar nicht stehen wollen und immer ein anderes Image gesucht. Dabei hat mir dieser Name immer gefallen: „Stadt der tausend Feuer“: wo Feuer ist, da ist schließlich auch Wärme, da sind Menschen, da ist Arbeit. Aber anscheinend wollte man in Gelsenkirchen immer etwas Besseres sein. Genau wie unsere Väter immer gesagt haben: unsere Kinder sollen einmal etwas Besseres werden, so redeten und reden unsere Stadtväter. Dieses Image der Arbeiterstadt soll wohl einfach nicht sein.

      Dabei hatte ich selber eigentlich nie das Gefühl, dass wir zu bedauern sind. Ich habe mich unter den sog. kleinen Leuten immer sehr wohl gefühlt. Diese Menschen hatten immer ihre eigene Moral, sie waren einfach anständig, auch wenn sie von außen oft anders beurteilt wurden. Auch mein Vater war ein unglaublich moralischer Mensch. Er liebte Literatur und Musik, aber ich weiß noch genau, dass er Goethe nur deshalb nicht mochte, weil der in seinen Augen einen unmoralischen Lebenswandel geführt hatte. Wagner lehnte er ab, weil der in seinen Augen Gedankengut verbreitet hatte, das problemlos von den Nazis übernommen werden konnte.

      Diese engen Maßstäbe galten natürlich auch im privaten Leben. Kinder sind ihren Eltern gegenüber zumeist sehr kritisch, und ich kann wirklich behaupten, dass mein Vater auch nie die Unwahrheit gesagt hat. Er hat gesagt, was er dachte. Vor allem hat er nie hinterrücks über andere Leute geredet. Es ist z.B. einmal vorgekommen, dass ich als Kind irgendwelche Einkäufe für meine Mutter erledigt hatte, und versehentlich hatten die mir dort zuviel Wechselgeld zurückgegeben. Ich hatte das natürlich sofort bemerkt und kam ganz freudestrahlend nach Hause. Mein Vater hat sofort verlangt, dass ich dieses Geld zurückbringe. Aber solche Dinge gelten nicht nur für mein Elternhaus. Ich glaube, die kleinen Leute hatten insgesamt eine ganz feste Vorstellung von Moral. Und schon aus diesem Grund bin ich sogar froh darüber, in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein.

      Diese moralische Haltung galt übrigens auch Ausländern und Fremden gegenüber. Die gab es damals zwar noch nicht in dem Ausmaße wie heute, aber ich erinnere mich noch genau daran, dass mein Vater einmal etwas gelesen hatte über Farbige und dann meinte: Wenn es möglich wäre, würde ich am liebsten ein paar farbige Kinder adoptieren und großziehen. Das imponiert mir noch heute, vor allem wenn ich die augenblickliche Ausländerfeindlichkeit bei uns sehe. Je mehr ich über solche Dinge nachgedacht habe, um so stolzer war ich darauf, in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein. Denn oft ist es doch leider so: Je höher jemand hinaus will, um so korrupter wird er. Und wenn er erst ein Haus hat, dann will er unbedingt das zweite Haus haben, nach dem Zweitwagen noch den Drittwagen. Dabei geht das wirklich Wichtige im Leben verloren. Ich habe z.B. sehr bewusst den Krieg miterlebt, und der wichtigste und ergreifendste Tag in meinem Leben war der, als es endlich hieß: wir haben Frieden, dieser verdammte Krieg ist endlich vorbei. Das war einfach überwältigend. Mit der Armut haben wir leben können; aber diese Angst bei den Bombenangriffen war unerträglich gewesen, weil