Das Vermächtnis von Holnis. Peter Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741808388
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in dem hinter einem schrankgroßen Schreibtisch aus schwarz gebeizter Eiche ein eher unscheinbarer Mann saß, dessen Tracht und Amtskette ihn aber als Bürgermeister auswies.

      Jesper salutierte flüchtig und hielt dem Mann beiläufig die Arzturkunde hin.

      Er stellte sich nicht vor, er stellte keine Frage, sondern er ließ seine einstudierten Worte wie einen militärischen Befehl klingen, der keinen Widerspruch und keine Nachfragen zulassen sollte: „Ich werde hier den Posten des Amtsarztes übernehmen.“

      Erik Hansen hatten nicht eine besondere Intelligenz oder alte Beziehungen dieses Amt des Bürgermeisters eingebracht, sondern neben seinem Wohlstand die Fähigkeit zu unterscheiden, wann er buckeln musste oder wann er zutreten konnte. Hier schien ihm ein angemessener Respekt vonnöten, so dass Jesper und der Bürgermeister in kürzester Zeit die Modalitäten regelten.

      Von dieser Stunde an war aus Jesper Olsen Nis Nilsen geworden, der nun schon so viele Jahre als Amtsarzt in Flensburg residierte und wenn auch nicht beliebt, so doch respektiert wurde. Seine neue Identität war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er die allabendlichen Erinnerungen brauchte, um nie zu vergessen, wo er eigentlich herkam und welches Glück ihm beschieden war.

       Nis Nilsen war tief in seinen Gedanken versunken und nach dem dritten Glas Portwein fast eingenickt, als er eine Veränderung im Raum wahrnahm. Es war kein Geräusch, kein Windzug oder Schatten, aber er war nach so vielen Jahren immer noch Soldat genug, um Gefahr zu spüren. Mit einer Geschwindigkeit, die man diesem etwas schwerfälligen Mann nicht zugetraut hätte, schnellte er aus dem Sessel hoch und drehte sich zur Tür. Er bekam nie Besuch und hatte auch noch nie einen Dienstboten in sein Haus gelassen, aber was ihn erschreckte, war nicht die Anwesenheit einer fremden Person in seinen Räumen, sondern der Mann selbst. Der Fremde war nicht von beeindruckender Gestalt, zwar athletisch, aber nicht besonders kräftig. Was Nis Nilsen entsetzte, war die kalte Ruhe und die Selbstsicherheit, die der Mann ausstrahlte. Und Nis registrierte ein fast unscheinbares stilettartiges Messer, das der lautlose Eindringling so locker in der Hand hielt, als wollte er ein Geschenk überreichen. Blitzartig schoss dem Amtsarzt eine Erinnerung in den Kopf, die er vor einigen Jahren in einer der zahlreichen Flensburger Wirtshäuser erlebt hatte.

      Ein Mann von furchterregender Gestalt, vermutlich ein Matrose, war offensichtlich mit einem anderen Gast in einen Streit geraten. Der fast sieben Fuß große Mann, der Arme wie Dreschflegel besaß und dessen Gesicht durch zahlreiche Narben gezeichnet war, hatte sofort sein Messer gezogen, das einem kleinen Säbel glich. Er war um sich schlagend und brüllend auf sein Gegenüber losgestürmt. Sein wesentlich kleinerer Gegner war wortlos und scheinbar völlig entspannt stehen geblieben und wich erst im allerletzten Moment dem tödlichen Hieb des Matrosen aus. Kein Mensch im Gasthaus hatte gesehen, wie der Mann ebenfalls sein Messer gezogen haben musste und dem Matrosen einen Stich mitten ins Herz versetzt hatte, so schnell ging der ungleiche Kampf zu Ende. Als der Mann wortlos und fast schlendernd das Wirtshaus verließ, konnte ihm Nis ins Gesicht sehen. Völlig regungslos und ohne Emotionen, ein Bild, das er nicht aus seinem Gedächtnis verloren hatte.

      Der Fremde, der vor ihm stand, war sicher einige Jahre jünger, hatte aber den gleichen Blick. Nis Nilsen erkannte, dass es kein Entrinnen gab.

      Der Amtsarzt nahm nicht mehr die blitzschnelle Bewegung wahr, er spürte auch nicht den Schnitt in seinem Hals. Das letzte, was seine Augen an sein Gehirn sandten, war das Bild einer Tätowierung eines doppelstämmigen Baumes auf dem Unterarm des Mannes.

      4

      Fritz kam von der Arbeit müde und hungrig nach Hause. Wie gewohnt wich er mit tänzelnden Schritten den Tropfen aus Kondenswasser aus, die in dem dunklen, engen Durchgang zwischen den beiden Vorderhäusern von der Decke tröpfelten. Als er den Hinterhof erreichte, war ihm sofort klar, dass etwas vorgefallen sein musste. Kein Mensch war im Hof. Nicht seine Eltern oder Brüder und auch kein Nachbar. An sonnigen Frühlingsabenden wie heute war immer jemand vor der Tür. Die kleinen Hinterhofhäuser, die sich Seite an Seite zum Hang hin aneinanderreihten, waren eng, dunkel und feucht. Auch wenn kein Sonnenstrahl den Hof erreichte, so zog es alle Nachbarn nach draußen, falls es nicht regnete oder zu kalt war. Und heute war ein milder Abend, der auf den Frühling hoffen ließ. Abends war die Zeit, in der sein Vater draußen immer irgendetwas werkelte, sei es ein Stuhl reparieren oder alte Schuhe zusammenflicken. Seine Mutter hatte eigens einen klapprigen Hocker an der Hauswand stehen, um dort Gemüse zu schruppen oder Kartoffeln zu schälen und damit der verqualmten Küche zu entfliehen. Auch die Nachbarjungen lungerten vorm Abendessen immer in der Nähe des Hauses herum, um ja nicht zu spät zu kommen und mit leerem Bauch ins Bett gehen zu müssen. Niemand aus den Nachbarhäusern war zu sehen, wo doch der Hof der Ort war, wo die täglichen Neuigkeiten ausgetauscht wurden oder einfach nur ein Schnack gehalten wurde, wie Fritz`Vater immer zu sagen pflegte. Noch ungewöhnlicher war die verschlossene Haustür. Die Tür stand fast immer sperrangelweit offen, um den modrigen Geruch aus den schlecht belüfteten Räumen zu bekommen. Jeder Dieb wusste, dass es aus den Wohnräumen solcher Gebäude kaum etwas zu stehlen gab und dass die Gefahr erwischt zu werden, bei solch enger Nachbarschaft das Risiko nicht lohnte. Deswegen war es überflüssig, die Türen zu verriegeln.

      Gerade in dem Moment, als Fritz die Türklinke herunterdrücken wollte, wurde die Tür von innen aufgestoßen. Er schaffte es um Haaresbreite, den Kopf zur Seite ziehen, um keine Beule davonzutragen. Als Fritz erkannte, wer da vor ihm auftauchte, und er sich sicher war, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten, war er erst wie erstarrt und er konnte kein Wort über seine Lippen bringen. Mit allem hätte er gerechnet - nur nicht mit seinem großen Bruder Christian. Eine Flut von Gefühlen überschwemmte ihn: Fassungslosigkeit, die Erinnerung an das Gefühl, verlassen worden zu sein, und eine überwältigende Freude. Unter größter Anspannung verharrte er an der Stelle, nicht sicher, wie er dem Bruder begegnen sollte und mit einem Stück Furcht, er könnte sich gegenüber seinem Bruder lächerlich machen. Aber als Christian die Arme ausbreitete und über das ganze Gesicht strahlte, fiel er ihm in die Arme, gleichgültig, ob das mit seinen neunzehn Jahren noch passend war. Sein Bruder hatte sich äußerlich kaum in den letzten Jahren verändert. Christian war immer noch einen halben Kopf größer als Fritz, er trug seine blonden lockigen Haare etwas länger, als Fritz in Erinnerung hatte, und er war ungewöhnlich braun gebrannt. Sein Lächeln strahlte eine Sorglosigkeit aus, als wäre er immer noch ein Kind aus geschützten Zeiten. Was Fritz allerdings sofort als Veränderung auffiel, war die Ruhe, die der Bruder vermittelte. So sehr Fritz seinen großen Bruder immer bewundert hatte, so sehr hatte ihn auch dessen Ungeduld und Ruhelosigkeit gestört, die häufig zu unvermittelten Wutausbrüchen geführt hatten. In der Schmiedewerkstatt war ihm einmal der Gedanke gekommen, dass sein Bruder wie flüssig glühendes Eisen war. Wenn in den Tiegel mit der Schmelze auch nur ein kleiner Tropfen Wasser geriet, dann schien der ganze Topf zu explodieren und konnte fürchterlichen Schaden anrichten. Jetzt stand Christian einfach so da, hielt seine Arme um Fritz` Schulter geschlungen, und es kümmerte ihn offensichtlich nicht, dass die Umarmung zu lange dauerte und dabei eine Nähe offensichtlich wurde, die sich für junge Männer kaum gehörte.

      „Lass uns reingehen, Christian, du musst erzählen, du musst alles erzählen.“

      Fritz hatte so viele Fragen, dass er gar nicht wusste, mit welchen er anfangen sollte. Obwohl ihm die so intensive Begrüßung so gut getan hatte, platzte er jetzt vor Neugierde und musste alles, alles erfahren, was sein Bruder erlebt hatte, und damit konnte er nicht länger warten.

      Er wollte sich an seinem Bruder vorbei ins Hausinnere drängeln, als er mit einem festen, fast schmerzhaften Griff zurückgehalten wurde.

      „Warte, Fritz, ich muss erst mit dir sprechen.“ Die Stimme von Christian war freundlich, aber energisch.

      „Wir haben uns lange nicht gesehen, aber es ist hier nicht der richtige Ort für Erklärungen.

      Wenn wir hier zusammen reingehen, dann brauche ich dein Wort, nein, du musst mir bei deinem Leben schwören, dass nichts, worüber wir drinnen reden, über deine Lippen kommt.

      Und dass du die Namen der Leute, die dir drinnen begegnen, vergisst. Kannst du das, Fritz?“

      Fritz war verwirrt. Diese plötzliche Ernsthaftigkeit passte überhaupt nicht