„Aber...!" hob Kendig an.
„Aber was?“ raunte Rupas.
„…wir sind in einem Zug!“ vervollständigte der junge Poremier.
„Ja, und?“ erwiderte Rupas. „Hier und da ein paar kleine Veränderungen und dieses Baby könnte am Ende sogar noch fliegen!“ Er lachte heiser auf. Dann aber konzentrierte er sich auf die Lenkung des Zuges. Kendig konnte jetzt deutlich spüren, dass die Geschwindigkeit immer weiter sank. Die Bestien hinter ihnen waren auf dem Bildschirm dadurch immer besser zu erkennen. Er spürte, dass er nervös wurde.
Einen Augenblick später aber endete der Tunnel und wich einer großen, kuppelförmigen Höhle von beachtlichen Ausmaßen. Fast gleichzeitig hatte Kendig das Gefühl, als würden sie bergauf fahren. Ein Blick aus einer Seitenöffnung zeigte ihm, dass er sich nicht irrte. Der Zug schien sich auf einer niedrigen Brücke zu befinden.
Rupas vor ihm betätigte einige Schalter und Knöpfe auf dem Kontrollpult. Zunächst fuhren dicke Glasscheiben vor den Drahtöffnungen vor und verschlossen sie mittels Hydraulik luftdicht. Dann war ein weiteres hydraulisches Zischen zu hören und ein Rütteln ging durch den Zug. Grund hierfür waren stählerne Klauen, die außen an den Rädern entlangfuhren und sich von unten gegen die Gleise drückten. Ähnlich wie bei einer Achterbahn sorgten sie dafür, dass der Zug auf den Gleisen und in der Spur blieb.
Schon senkten sich die Gleise wieder nach unten und vor ihnen tauchte ein großer See auf. Der Zug hielt direkt darauf zu und Kendig konnte sehen, dass die Gleise in einem sanften Bogen in ihn hineinführten. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, tauchte der Zug auch schon durch die Wasseroberfläche und schoss weiter dahin.
Das Wasser um sie herum war alles andere als sauber, sodass die Scheinwerfer kaum für genügend Licht sorgen konnten, um ihre Umgebung genügend zu erleuchten.
Dennoch konnte Kendig klar das Bett des Ilo-Flusses erkennen, durch das sie jetzt auf einer Brücke etwa zwanzig Meter unterhalb der Wasseroberfläche dahin rauschten. Er war ziemlich beeindruckt und erst einmal sprachlos. In den Gesichtern der anderen konnte er ähnliche Gefühle erkennen.
Das andere Ufer kam sehr schnell näher und schon nach gut zehn Sekunden hatten sie den Fluss auch schon wieder durchquert. Der Zug schoss durch die Wasseroberfläche und fuhr zunächst wieder auf einer niedrigen Brücke durch eine große Höhle, wobei er eine sanfte Linkskurve beschrieb. Nach etwa fünfzig Metern rollte er am Ufer des Sees in einen zweiten Bahnhof ein, der jedoch Teil einer weitaus längeren Kaimauer war, die sich noch mindestens zweihundert Meter weiter erstreckte und ganz offensichtlich zum Anlegen von Flugbooten oder herkömmlichen U-Booten gedacht war.
Rupas bremste den Zug schnell, aber dennoch sanft ab und schaltete schließlich den Motor aus. Während er sich aus seinem Sitz erhob und in das hintere Abteil kam, öffnete Malissa die seitlichen Einstiegstüren und deutete den anderen an, ihnen zu folgen.
Als Kendig die große Höhle betrat, war er erneut beeindruckt von ihren Dimensionen, aber auch von der Geschäftigkeit auf dem Kai. Drei Schiffe lagen gerade vor Anker. Zwei davon waren Flugboote mittlerer Größe, eines war ein konventionelles, aber ziemlich mächtiges U-Boot. Er kam sich fast so vor, wie in Kimuri und ein dünnes Lächeln huschte über seine Lippen. Er hätte sich auch gern noch weiter umgeschaut, doch sah er, dass Malissa und Rupas die Gruppe durch einen breiten Stollengang führten. Kendig folgte ihnen.
Nach etwa zwanzig Metern hatten sie das Ende des Ganges erreicht. Rupas und Malissa stoppten ab und atmeten einmal tief durch.
Kendig trat neben Malissa und folgte ihrem lächelnden Blick. Sofort war er wieder beeindruckt, als er in die gewaltige, große Höhle blicken konnte, die sich vor ihnen auftat. Sie war bestimmt zweihundert Meter lang und fast genauso breit. Ihre Höhe betrug sicherlich zwanzig Meter. Sie selbst befanden sich auf einer Art Galerie in dritten Stock und konnten das bunte Treiben vor ihnen bestens beobachten. Kendig kam sich vor wie auf einem alten Marktplatz. Überall gab es kleine Stände und Hütten, Bereiche, in denen etliche Sitzbänke standen und mehrere Feuerstellen unterschiedlicher Größe. Und mitten drinnen sicherlich einige hundert Menschen aller Altersklassen, die wie die Ameisen unterwegs waren.
Ja, das alles sah fast genau so aus, wie auf einem alten Marktplatz, nur mit einem kleinen, aber sehr gewaltigen Unterschied, der eine leichte Gänsehaut bei ihm verursachte: Es war beinahe totenstill hier!
Und Kendig wusste auch warum, denn mochte alles auch nach geschäftigem Treiben und Aktion aussehen, so waren die Menschen hier, genauso wie überall auf diesem Planeten, einzig um ihr Überleben bedacht und dabei konnte keine Lebensfreude mehr aufkommen.
Kendig spürte, dass er trübsinnig wurde, doch er schaute zufällig zu Malissa und erkannte noch immer das sanfte Lächeln auf ihren Lippen.
Die Frau bemerkte seinen Blick. „Willkommen in Ajuminaja!“
X
Es brannte nur eine einzige Kerze in seinem Zimmer, doch reichte sie aus, um den kleinen Raum in ein schwaches Dämmerlicht zu tauchen. Obwohl es schon seit nunmehr sieben Jahren sein Quartier hier auf Kimuri war, wirkte es noch immer kalt und unpersönlich. Doch das war Jorik absolut egal. Für ihn war dieser Raum ohnehin stets nur ein notwendiges Übel gewesen und er mied ihn, so oft es nur ging.
Rettungsaktionen, um Menschenleben dem sicheren Tod zu entreißen, Arbeiten, um die Lebensumstände der Menschen hier im Lager oder die Eigenschaften und Funktionen der Flugboote zu verbessern waren viel wichtiger für ihn. Sein Zimmer suchte er immer nur dann auf, wenn er duschen wollte oder auch musste oder sein Körper rebellierte und nach ein paar Stunden Schlaf schrie. Ansonsten empfand er diesen Raum, auch wenn er nicht recht wusste, warum, als erdrückend, belastend und abweisend.
Kraft tanken, abschalten oder einfach nur seine Seele läutern, dass konnte er hauptsächlich nur am Grab seiner Tochter Daria, aber natürlich auch seit geraumer Zeit in den Gesprächen mit Marivar.
Da die Veränderungen in der Atmosphäre jedoch immer mehr Einfluss auf das Wetter hatten, musste er seine Besuche bei seiner Tochter in den letzten Monaten deutlich einschränken. Und da er selbst und auch Marivar sehr stark eingespannt waren und lange nicht so oft Zeit miteinander verbringen konnten, wie zumindest Jorik es sich wünschte, blieb ihm am Ende doch nichts Anderes übrig, als sich in sein Quartier zurück zu ziehen und dort Ruhe zu finden.
Meist saß er dabei – so wie jetzt – in einem alten, aber durchaus bequemen Sessel, der neben dem kleinen Schreibtisch stand, beim Schein einer einzelnen Kerze und ließ seinen Gedanken freien Lauf, um die Erlebnisse und Geschehnisse um ihn herum zu verarbeiten. Immer hielt er dabei das alte, verblichene Foto seiner Frau Alisha in den Händen. Es war das Einzige, das er noch von ihr besaß und er konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wann es gemacht wurde: Auf der Hochzeit von Kaleena und Vilo vor nunmehr fast acht Jahren. Kaleena war gut mit einem professionellen Fotografen befreundet gewesen, der es sich nicht nehmen ließ, die Hochzeit selbst zu fotografieren. Das Bild seiner Frau war erst gegen Ende der Feier in den frühen Morgenstunden entstanden, aber es war – zumindest für Jorik - das mit Abstand schönste Foto, das je von ihr gemacht worden war. Genau deshalb hatte er sich davon auch einen Abzug machen lassen, den er seither ständig in seiner Brieftasche mit sich trug. Die hatte er schon längst nicht mehr, doch dieses Foto hatte er zurückbehalten und er war stets dankbar, dass er diese wundervolle Momentaufnahme von ihr besaß.
Das Bild zeigt Alisha allein, halb im Profil von der rechten Seite. Sie saß mit etwas Abstand an einem Tisch, daher war nur ihr Oberkörper abgelichtet. Das atemberaubend schöne Kleid, das sie an diesem Tag trug, war deshalb nicht vollkommen zu sehen, doch zeigte schon dieser eingeschränkte Blick auf sie, wie brillant der dünne Stoff ihren wundervollen Körper umspielte und ihre Reize hervorhob. Natürlich war Alisha an diesem Tag hervorragend geschminkt - dezent, aber sehr verführerisch - und ihr langes, lockiges, blondes Haar herrlich frisiert. Für Jorik, aber das war ja auch kein Wunder, weil tief empfundene Liebe seinen Blick trübte, war sie die schönste Frau dort gewesen, selbst schöner als die Braut. Alisha