1. Kapitel - Lisa
»GRRR«, schreie ich und werfe wütend die Haarbürste auf den Boden. Mir schießen die Tränen aus den Augen. Mein verheulter Blick streift den Spiegel. Ich erschrecke vor dem Anblick. Das Make-up, für das ich ewig brauchte, damit es einigermaßen gut aussieht, ist durch die verlaufene Wimperntusche ruiniert.
Genervt gehe ich in die Küche, öffne den Küchenschrank, ziehe die beiden Kochbücher aus der Mitte raus und greife nach dem Zigarettenpäckchen, das zum Vorschein kommt. Nervös hole ich eine Zigarette heraus, zünde sie mir an und öffne das Küchenfenster. Ich atme den Rauch tief ein und verschlucke mich dabei. Es ist einige Monate her, als ich zum letzten Mal eine qualmte. Richtig geraucht habe ich noch nie. Es war eher ein heimliches Paffen zum Stressabbau. Ich achtete jedes Mal darauf, unentdeckt zu bleiben. Das machte ich bereits als Teenager. Ab der achten Klasse fing ich mit dem Rauchen an. Nach Schulschluss ging ich mit den anderen aus meiner Stufe in den Park, der nur wenige Fußminuten von dem Schulgebäude entfernt lag. Dort versteckten wir uns hinter der kleinen Kapelle und rauchten, um cool zu sein. Ich machte nur mit, um akzeptiert zu werden. Echte Freunde hatte ich damals keine. Mit der Zeit ergab es sich, dass ich immer Zigaretten im Haus hatte und ich mir in Stresssituationen heimlich eine ansteckte. Selbst meine Eltern wissen bis heute nichts davon. Ich war stets übervorsichtig. Jetzt bin ich zwar erwachsen, schäme mich dennoch vor ihnen zu rauchen. Hätten sie mich früher zu Schulzeiten erwischt, hätte mein Vater mich windelweich geprügelt. Solange ich zurückdenken kann, waren meine Eltern streng. Schon in der ersten Klasse erwarteten sie Höchstleistungen von mir. Das zog sich bis zum letzten Schuljahr hin. Ich erinnere mich noch an den Streit, den wir damals hatten, als ich kein Abitur machen und nicht studieren wollte. Besonders mein Vater tat sich schwer, mit meiner Entscheidung umzugehen. Er erwartete von mir, dass ich Ärztin oder Ähnliches werde, damit er vor anderen mit mir angeben kann. Ich legte noch nie viel wert auf Status, ich wollte arbeiten, um zu leben und nicht leben, um zu arbeiten. Nach der Auseinandersetzung ging er mir einige Zeit aus dem Weg. Es dauerte Monate, bis er wieder mit mir sprach und sich das Verhältnis zwischen uns normalisierte.
Über bestimmte Themen konnte ich mit meinen Eltern noch nie sprechen. So ist es auch mit dem Rauchen. Beide sind strikte Nichtraucher. Ich höre sie schon, wie sie mir eine Standpauke halten, wenn sie von dem Laster - wenn man es überhaupt so nennen kann - ihrer Tochter wüssten. Deshalb setze ich alles daran, es für mich zu behalten.
Auch jetzt verstecke ich mich hinter der Gardine, damit keiner der Nachbarn mich rauchen sieht und meine Eltern durch einen dummen Zufall davon erfahren.
In den letzten Monaten verspürte ich kein Verlangen nach einer Zigarette, aber jetzt muss es einfach sein. Nichts scheint mir an diesem Samstag gelingen zu wollen.
Schon nach dem Aufstehen passierte mir ein Malheur nach dem anderen. Zuerst fiel mir die Kaffeekanne aus der Hand, als ich mir einen Kaffee kochen wollte. Sie zersprang in viele kleine Einzelteile. Ohne die Kanne ist die Maschine nutzlos. Um mir dennoch einen Muntermacher zubereiten zu können, nahm ich den Wasserkocher und machte mir einen türkischen Kaffee. Beim Einschenken des heißen Wassers verbrühte ich mich. Statt es wie üblich in die Tasse zu kippen, landete ein Teil auf meiner linken Hand. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Eigentlich sollte so viel Ungeschicklichkeit für einen Tag reichen, aber Fehlanzeige. Nun habe ich das Problem mit den Haaren. Ausgerechnet heute an Mias Geburtstag. Sie hat jede Menge Freunde und Bekannte eingeladen und einen Saal angemietet, um die vielen Gäste unterzubekommen. Bei so einem Ereignis möchte ich natürlich gut aussehen. Seit mehreren Stunden versuche ich mir eine anständige Frisur zu zaubern, aber mein Haar will sich einfach nicht bändigen lassen. Auf dem Kopf sehe ich aus, als hätte ich letzte Nacht in einem Stall verbracht. Meine Haare sehen strohig aus. Der Anblick ist grässlich.
Ich nehme den letzten Zug der Zigarette und schaue vorsichtig nach draußen. Als die Luft rein ist, werfe ich den Filter hinaus und bläue mir ein, ihn nachher unauffällig in der Abfalltonne zu entsorgen, bevor einer der Nachbarn ihn findet. Ich wohne in einem Mehrfamilienhaus, indem es viele neugierige Leute gibt. Die alte Frau Jakobs aus dem ersten Stock scheint besonders interessiert an dem Leben ihrer Mitmenschen zu sein. Sie sitzt dauernd hinter dem Fenster und beobachtet jede noch so kleine Bewegung der anderen Hausbewohner. Wenn ihr etwas nicht passt, macht sie ihren Unmut lautstark bemerkbar und schnauzt denjenigen an, der angeblich einen Fehler gemacht hat. Mich hat sie bereits mehrfach angemeckert. Es ging jedes Mal um die Reinigung des Treppenhauses. Frau Jakobs ist der Meinung, der Hausflur müsste samstags bis zum Mittag gereinigt sein. Es gibt zwar die Vereinbarung, dass alle Hausbewohner wöchentlich wechselnd mit der Hauswoche dran sind, aber nicht an welchen Tag die Reinigung stattzufinden hat, geschweige denn, zu welcher Uhrzeit es geschehen muss. Das habe ich ihr schon etliche Male erklärt, jedoch blieb es ohne Erfolg. Also muss ich mir immer, wenn ich nach zwölf Uhr putze, ihr Gemecker anhören. Inzwischen habe ich mir abgewöhnt, mit ihr zu diskutieren. Es hat ja doch keinen Sinn. Stattdessen habe ich mir einen MP3-Player gekauft und höre bei der Reinigung so laut Musik, dass ich kein Wort der Jakobs verstehe. Das funktioniert gut. Zumindest habe ich meine Ruhe. Sie scheint es noch nicht bemerkt zu haben. Sonst würde sie aufhören, mich zuzutexten. Es ist mir aber gleichgültig.
Dann schließe ich das Fenster und gehe zurück ins Bad. Ich blicke in den Spiegel und überlege, ob ich mir zuerst das Make-up erneuern oder mich um das Stroh auf dem Kopf kümmern soll. Meine Entscheidung fällt auf das Gesicht. Das habe ich heute schon ein Mal hinbekommen. Hätte ich mir das Heulen verkniffen, müsste ich es jetzt nicht neu machen. Bei den Haaren bin ich mir unsicher, ob ich sie gebändigt kriege oder ich, wie üblich zu einem Haargummi greifen muss.
Als ich gerade dabei bin, mich neu anzumalen, fällt mein Blick zufällig auf meine Armbanduhr und lässt mich erstarren. In einer Stunde steigt Mias Party und ich sehe aus, als wäre ich eben aus dem Bett gekrochen. Ich verstehe nicht, wo die Zeit geblieben ist. Mir kommt es vor, als hätte ich eben erst Mittag gegessen. Dabei ist es schon kurz nach siebzehn Uhr. Ich hatte so gehofft, noch Zeit für eine Tasse Kaffee zu haben, bevor ich mich auf den Weg zu Mia mache. Daraus wird jetzt nichts mehr.
Mit schnellen Bewegungen erneuere ich die Schminke. Nach einem kurzen prüfenden Blick gebe ich mir ein Okay für meine Arbeit. Ich sehe zwar nicht annähernd so gut aus wie vorhin, aber es reicht, um das Haus zu verlassen.
Hastig hebe ich die Bürste auf, kämme mir die Haare und binde sie zu einem Zopf zusammen. Mir ist die Lust vergangen, mich mit meinem widerspenstigen Haar auseinanderzusetzen. Ich begreife nicht, wie andere Frauen es schaffen, stets wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Mir fehlt die Geduld, mich stundenlang zurechtzumachen. Von dem Spaß ganz abgesehen. Für mich gibt es wichtigere Dinge, als mich mit meinem Äußeren zu