Brüder mit schlanken Beinen. J.C. Caissen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J.C. Caissen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844253184
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Der Herr ging neben Corinnas Stuhl in die Hocke.

      „Hallo, Corinna. Ich heiße Michael. Ich wollte dich mal was fragen. Du weißt, der Mann, der mit dir am Sandkasten war, der hat dir doch deine Unterhose herunter gezogen, ja?“

      Der Vater ließ plötzlich Corinnas Hand los, legte ihr aber sofort den Arm um die Schulter. Sein Arm fühlte sich warm und beschützend an.

      „Ja...“

      Sie wagte nicht, laut zu sprechen und flüsterte wohl nur ein wenig, aber der Herr, der Michael hieß, lächelte ihr aufmunternd zu und sprach weiter.

       „Dieser Mann, siehst du den hier im Raum, Corinna, der mit dir am Sandkasten war?“

      Corinna schaute verstohlen zu August hinüber, nickte und schaute dann sofort auf die Tischplatte.

      „Gut. Kannst Du ihn uns auch zeigen? Kannst Du mit dem Finger mal auf ihn zeigen?“

       Sie sagte nichts mehr, kriegte keinen Ton mehr raus, denn plötzlich schauten alle anderen Menschen in ihre Richtung. Sie schaute verstohlen zu ihrem Vater hoch, der ihr ermutigend zunickte. Dann zeigte sie auf August, der ganz rechts in der Tischreihe gegenüber saß. Sein Gesicht war überhaupt nicht freundlich. Sie sah ganz schnell wieder weg, zu ihrem Vater, der sie in den Arm nahm.

      „Prima, Corinna, das hast du richtig gut gemacht. Du hast uns bei unserer Arbeit geholfen. Und jetzt kannst du mit deinem Vater auch schon wieder nach Hause gehen, ja?“

      Der Vater stand auf, nahm ihre kleine, schwitzende Hand, dann gingen sie aus dem Raum, die Schritte hallten wieder bei jedem Schritt, die des Vaters dunkler und nicht so oft, ihre eigenen heller und viel öfter. Auf einen Schritt des Vaters kamen drei von Corinna. Sie verließen das Gebäude, gingen die große Treppe wieder hinunter und dann nach Hause. Es hatte angefangen zu nieseln, der Vater hatte keinen Schirm, nicht mal Mäntel hatten sie angezogen, als sie von zu Hause losgingen.

      Der Vater redete nicht viel, Corinna fragte auch nichts, dachte nur, daß jetzt die Polizei wohl dem August sagen würde, daß er das nie wieder tun dürfe, die Mädchen erschrecken. Aber sie, sie habe sich ja eigentlich gar nicht erschrocken. Sie kannte ja den August, den großen Bruder von Käthe.

      Jahre später sollte sie erfahren, daß August eine Gefängnisstrafe von mehreren Jahren hatte absitzen müssen. Es waren noch einige andere Mädchen mit ihren Eltern vernommen worden. Bei den anderen Mädchen hatte es Käthe scheinbar nicht geschafft, so schnell einzugreifen.

      2

      Die Familie zog um in eine andere Stadt, westfälisch, klein, Rheda. Der Vater hatte dort eine neue Arbeit bekommen, auch wieder im Büro, aber diesmal in einer großen Firma. Und jetzt bekamen sie auch eine eigene Wohnung. Die lag direkt gegenüber der großen Firma. Der Vater hatte nur wenige Schritte zu gehen zu seiner Arbeit. Alles sah sauber aus, viel schöner und neuer als in Bielefeld. Sie wohnten im Parterre und hatten sogar eine richtige Terrasse. Hinter der Terrasse lag ein riesiger Garten, d. h. erst mal war da überhaupt kein Garten, sondern einfach nur ein Lehmacker, denn das Haus war ganz neu gebaut worden, und der Garten war noch gar nicht fertig. Es sollte auch nicht nur ihr eigener Garten werden, vielleicht eingezäunt, nur für die Familie, mit dichten Bäumen drumherum, so daß keine Nachbarn hätten hineinschauen können, wenn die Mutter sich vielleicht im Bikini hätte sonnen wollen oder so, sondern dieser Garten sollte für alle da sein, alle Bewohner des Neunfamilienhauses sollten ihn benutzen können.

      Das neue Haus hatte drei Etagen und nur drei Familien benutzen ihren, den mittleren, Eingang. Es gab auch noch einen linken Eingang und einen rechten Eingang. Auch da wohnten jeweils noch drei Familien. Corinna fand das neue Haus einfach schön, es roch so frisch nach neuer Farbe, wenn man ins Treppenhaus kam, und in der Wohnung hatten sie nun auch ein eigenes Badezimmer mit einer richtigen Badewanne. Und Tobbe, Enne und sie hatten ein gemeinsames Kinderzimmer und die Eltern ihr eigenes. Alles war schöner. Und Käthe waren sie auch los.

      Der Vater hatte aus Corinnas altem Gitterbettchen eine Eckbank für die Küche gebaut, auf der sie beim Essen saß, zusammen mit Enne, mehr Platz war nicht. Die Mutter hatte für die Matratze einen Polsterbezug genäht.

      „Ich will auf gar keinen Fall, daß Ihr draußen hinterm Haus spielt, kapiert?“, sagte Ruth eines Tages beim Frühstück. Corinnas Mutter war der reinste Putzteufel und hatte sicher Angst, daß die Kinder Dreck in die schöne, neue Wohnung tragen würden. Enne maulte sofort los, aber die Erklärung des Vaters ließ nicht auf sich warten „Es ist nämlich so, daß da ab morgen eine Gruppe Strafgefangener einen Garten anlegen soll. Wir haben mit der Nachbarin gesprochen. Da geht ihr nachmittags, nach der Schule und dem Kindergarten, sofort hin. Mami holt Euch dann dort ab, sobald sie von der Arbeit kommt“.

      „Wie denn, richtige Verbrecher?“ Tobbe machte große Augen. Enne wurde ganz zappelig vor Aufregung. „Toll, endlich ist mal was los. Müssen wir wirklich zu dieser blöden Tante, Papi?“ Corinna guckte ihren Vater ganz ängstlich an und war irgendwie doch froh, als der sagte „Erstens ist das keine blöde Tante, sondern die Frau Dapora, die Frau eines meiner neuen Kollegen. Und zweitens erwarte ich, daß ihr euch da anständig benehmt. Ich will nicht, daß ihr uns blamiert. Und dir, Heiner, wird sie bei den Schulaufgaben helfen. Sie ist nämlich eigentlich Lehrerin, und du mußt dich ja zur Zeit ein klein wenig anstrengen oder? “

      „Spielverderber“, nörgelte Enne herum. Er biss ein viel zu großes Stück von seinem Brot ab und war deshalb gar nicht mehr in der Lage, irgend etwas zu sagen. Es war wieder Ruhe am Tisch.

      Am nächsten Tag, nach dem Kindergarten, ging Corinna direkt zur Nachbarin, die wohnte im rechten Eingang, die Treppe rauf. Die Mutter hatte wieder eine neue Arbeit in der Fabrik bekommen, bei der sie Stühle zusammen leimen mußte. Den ganzen Tag, immer dieselben Handgriffe, vier Stuhlbeine in die Löcher, in die sie vorher den Leim getropft hatte. Nächster Stuhl. Das war eine langweilige Arbeit, aber sie brauchten das Geld.

      Sie kam aber immer schon am frühen Nachmittag nach Hause. Und die Frau Dapora war ja eigentlich auch ganz nett.

      Corinna hatte noch keine Schulaufgaben, mußte deshalb auch nicht immer mit Büchern wie Tobbe und Enne, am Tisch sitzen. Sie durfte am Fenster, auf der dicken Sessellehne knien, den Kopf in die auf die Fensterbank aufgestützten Arme gelegt. Und dann sah sie sie, die Männer in den grauen, schlabbrigen Anzügen, den schmutzigen Schuhen. Sie wurden bewacht von zwei anderen Männern, in schneidigen grünen Uniformen, mit schwarzen Stiefeln. Und ein Gewehr hatten die Grünen auch über der Schulter.

      Die Grauen sollten also aus dem Acker einen Garten machen, mit Rasen, Büschen, Sandkasten und sogar einem Klettergerüst, hatte der Vater erzählt.

      Corinna schaute jeden Tag vom Fenster hinunter auf den Lehmacker. Wenn Enne und Tobbe heimkamen, stürzten sie auch erst einmal zum Fenster, bis Frau Dapora sie an den Tisch und zu den Schulaufgaben rief. Corinna fand, die grauen Männer hatten alle unglückliche Gesichter. Die zwei Gefängniswärter patrouillierten auf und ab, mit ernsten, aber nicht unglücklichen Gesichtern, sagten ab und zu etwas zu den Gefangenen. Sie konnte nur sehen, wie sie mit den Händen fuchtelten und den Mund bewegten, hören konnte sie nichts, hier hinter der Fensterscheibe. Die Grauen beugten sich dann wieder über ihre Spaten und Schubkarren und arbeiteten weiter.

      Ein wenig ängstlich war sie schon, während sie heimlich die grauen Männer beobachtete. Einmal schaute einer hoch zu ihrem Fenster, und erschrocken rutschte sie in den Sessel zurück und versteckte sich. Und sie hoffte, daß die grünen Männer nicht irgendwann mal schießen würden.

      Ob die wohl auch Kinder zu Hause hatten? Und was die wohl angestellt hatten, weswegen sie jetzt hier arbeiten mußten? Das dachte sie. August war nirgendwo zu sehen, aber der wohnte ja auch in einer anderen Stadt.

      Und langsam, jeden Tag ein bisschen mehr, wurde aus dem nass klebrigen, grauen Lehmacker ein schöner Garten, ein grüner Zaun wurde rundherum hochgezogen, ein rotes Klettergerüst, aus einem halbrunden Bogen mit Stangen, wurde errichtet, an denen man hochklettern und von einer zur anderen Seite hinüberklettern konnte, und eines Tages waren die grauen und grünen Männer verschwunden. Keiner hatte versucht, wegzulaufen, es war auch nicht