Als sie zum Arzt kamen, zog der gerade seinen weißen Kittel aus. Er beugte sich zu Corinna herunter und streckte ihr freudig die Hand entgegen.
„Hallo, ich bin der Thomas und wie heißt Du?“
„Corinna“ strahlte sie ihn an und nahm seine Hand. Die war groß. Größer als die des Vaters und etwas fleischig.
„So ein toller Name. Du, ich wollte, daß wir uns gemeinsam mal ein paar Bilder hier an dem Tisch anschauen, sieh mal, sind die nicht schön? Vielleicht kannst Du mir helfen bei meiner Arbeit?“
Sie rutschte auf den kleinen Stuhl, den er für sie zurückgezogen hatte, und dann saßen sie alle drei, der Vater, der Arzt ohne Kittel und sie, an einem kleinen runden Kindertisch, die Erwachsenen mit hochgezogenen Knien auf den kleinen Stühlen. Auf dem Tisch lagen verschiedene Holztafeln, auf denen bunte Bilder aufgeklebt waren.
„ Weißt Du vielleicht, was die da machen, die Kinder, hier auf diesem Bild? Erzähl doch mal, was du alles siehst auf dem Bild?“
Es war wirklich ein hübsches, fröhliches Bild. Darauf war ein Haus zu sehen, rundherum ein Garten, Apfelbäume blühten im grünen Garten. Die Sonne schien. Am Gartenzaun lief bellend ein kleiner braun weißer Hund. Der Briefträger stand mit dem Fahrrad am Briefkasten. Am weit geöffneten Fenster des Hauses stand eine ältere Frau. Sie winkte von innen zu den beiden Kindern, die draußen im Garten spielten. Die Kinder hatten eine Decke auf dem Rasen ausgebreitet und spielten mit ihren Puppen und anderen Spielsachen. Eines der Kinder winkte zurück, das andere war vertieft ins Spiel mit Puppentassen und -tellern.
Corinna plapperte munter drauf los, erzählte, was sie sah. Ein Bild nach dem anderen sahen sie sich an, und alle Bilder beschrieb Corinna.
„Ja, jetzt sehe ich das auch. Endlich weiß ich, was da alles zu sehen ist und die Geschichten dazu. Das hast du ganz toll gemacht, Corinna. Du hast mir sehr geholfen.“
Irgendwann waren alle Bilder angeguckt, der Arzt ohne Kittel stand langsam auf, streckte den Rücken, und der Vater nahm Corinnas Jacke vom Haken.
Der Arzt ohne Kittel sagte „Das sieht alles okay aus. Sie müssen wissen, manche Kinder erzählen, daß z.B. die Frau am Fenster die Kinder mit dem gekrümmten Finger hereinlocken will, ungefähr so wie die böse Hexe in Hänsel und Gretel. Nein, nein, ihre Tochter ist absolut glaubwürdig. Ich werde das so schreiben in meinem Bericht.“
Der Arzt ohne Kittel, er war Kinderpsychologe der Polizei, verabschiedete sich freundlich. Der Vater nahm Corinnas Hand, lächelte sie an, und sie gingen hinaus. Die Hand ihres Vaters fühlte sich besser an als die des Arztes. Sie war warm, nicht so wabbelig, und Corinna spürte seinen festen, aber trotzdem nicht harten Händedruck. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Ihr Vater, den sie später mal heiraten würde.
„Jetzt gehen wir erst einmal ein Eis essen. So schön, wie du dem Arzt geholfen hast, hast du dir das jetzt wirklich verdient“.
Tage später saßen sie am Frühstückstisch, alle zusammen. Die Brüder waren quirlig wie immer. Sie stopften sich Brot in den Mund, der Vater ermahnte sie, ordentlich am Tisch zu sitzen und nicht zu schmatzen. Aber sie hatten es eilig, mußten zur Schule. Und ab, - da waren sie auch schon durch die Tür, tschüss, tschüss.
Corinnas Brüder. Heiner, sie nannte ihn nur einfach Enne, weil es einfacher war. Er war drei Jahre älter als sie, also sieben Jahre alt und Tobias, sie nannte ihn Tobbe, der Älteste, war sechs Jahre älter als sie, also zehn.
Enne war der pfiffige, hübsche, der freche, spontane, der immer was ausheckte und dann aber auch dafür mutig die unvermeidbare Strafe einsteckte, manchmal sogar grinsend, was den Vater zur Weißglut brachte. Dann zeigte dieser seinen Jähzorn, den alle seine Kinder, das eine mehr, das andere weniger ausgeprägt, geerbt hatten. Aber Enne war auch absolut geradeaus, sagte, was er dachte, auch wenn es gerade nicht angenehm zu hören war. Und er beschützte Corinna immer, gegen alle und jeden. Dafür liebte sie ihren Bruder Enne. Später sollte sie ihn mal mit Omar Sharif aus dem Film Doktor Schiwago vergleichen, aber da war er schon so um die achtzehn und der Schwarm aller Mädchen.
Tobbe war ruhiger, zurückgezogen, erst denken, dann handeln. Bloß nichts riskieren, etwas feige, hellhäutig, rothaarig, etwas ungelenk, sich immer der erdrückenden Verantwortung des Ältesten bewusst und deshalb meistens der Spielverderber. Enne und Corinna nannten ihn deshalb den 'Volkspolizisten'. Oft heckten Corinna und Enne gemeinsam Dinge aus, die Tobbe dann bei der Mutter petzte, wohl petzen mußte, was diese prompt abends dem Vater weitertrug. Sie selbst war zu schwach, um einen Streit mit ihnen auszutragen oder zu bestrafen, das tat dann der Vater, wenn er abends vom Büro nach Hause kam. Und so wurde aus mancher spontanen und freudigen Begrüßung bald ein ernstes Gespräch und Strafe.
Heute blieb der Vater länger am Frühstückstisch sitzen, zusammen mit Corinna und der Mutter, die aber bald auch zur Arbeit gehen mußte. Corinna wunderte sich, daß der Vater gar nicht ins Büro mußte und sie auch nicht in den Kindergarten gebracht wurde. Er wandte sich zu ihr.
„Du und ich, wir müssen heute zur Polizei gehen und denen über August erzählen, als er mit dir am Sandkasten war. Die möchten das gern hören, weißt du, und wir sollen dorthin kommen.“
Er machte ein völlig unbeschwertes Gesicht, nahm noch einen Schluck Kaffee zwischendurch, lächelte sie wieder an. Aber irgend etwas in seinem Tonfall war trotzdem anders, etwas gespannt.
„Aber wieso denn, ich habe doch gar nichts gemacht.“
Der Vater lachte sie an, beugte sich rüber zu ihr und schaute ihr tief in die Augen.
„ Nein, du hast überhaupt nichts angestellt, und Angst brauchst du schon mal gar nicht zu haben. Aber der August, der hat schon öfter kleinen Mädchen die Hosen runter gezogen und die Mädchen haben sich dann ganz furchtbar erschrocken und geweint und die Eltern sind deshalb böse auf den August. Und das will die Polizei jetzt dem August mal sagen. Denn das darf man ja nicht, jemand anderem einfach die Hose runter ziehen.“
Sie selbst hätte aber doch überhaupt nicht geweint, entgegnete Corinna dem Vater, denn sie sei ja auch schon groß, und außerdem hätte sie ja den August gekannt. Warum mußten sie dann trotzdem zur Polizei? Verheimlichte der Vater ihr etwas? Nein, sie vertraute ihm blind und sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
Der Vater und sie traten auf ein großes, uraltes Gebäude in der Innenstadt zu, mit verschnörkelten, in Stein gehauenen Ornamenten über den Fenstern und einer großen Steintreppe, die zu einer übergroßen, reich verzierten Eichentür führte. Über der Eichentür, genau in der Mitte, war eine Frau mit einer Waage in der Hand in den Stein gehauen. Die Frau schaute genau geradeaus, hoch oben, über ihre Köpfe hinweg. Von einer Säule an der Treppe flatterten mit klatschendem Flügelschlag Tauben auf und flogen in großem Bogen davon. Der Vater drückte die schwere Eichentür auf. Sie suchten das richtige Zimmer in den langen Fluren, in denen jeder Fußschritt als Echo von den Wänden widerhallte, und betraten dann schließlich einen Raum mit mehreren länglichen Tischen. Hinter den Tischen standen Stühle. Einige andere Leute waren bereits im Raum, saßen hinter der Tischreihe, mit dem Gesicht zu ihnen, und redeten in gedämpftem Ton mit den Nachbarn rechts und links. Der Ton war angespannt, nicht unbeschwert. Der Vater begrüßte einen noch stehenden Mann, wechselte ein paar Worte, dann setzten auch sie sich hinter die Tischreihe vor ihnen, gegenüber der anderen Tischreihe. Langsam wurden die Leute ruhiger, bis keiner mehr etwas sagte. Es war ganz still, obwohl es in dem Raum sehr hallte, nur das Scharren von ein paar Schuhen war noch zu hören und das Hüsteln einer älteren Frau mit Handtasche und Taschentuch.
Dann ergriff einer der gegenüberliegenden Herren das Wort, Corinna hielt die Hand des Vaters ganz fest und er erwiderte den Druck, nickte ihr lächelnd zu. Sie hörte die Leute reden, verstand selbst aber weder die Bedeutung der Worte, noch die Zusammenhänge. Was gab es denn so Interessantes zu reden, sie wollten doch mit August reden. Der war auch gekommen, den hatte sie schon gesehen.
Plötzlich stand einer der Herren