Handover. Alexander Nadler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Nadler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741848018
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bringen mich Eva-Maries Aufzeichnungen ein Stück weiter’, machen sich Unruhe und Ungeduld in seinen Gedanken breit, die nach einem neuen Hoffnungsschimmer Ausschau halten, da ihn unerklärliche und im Grunde genommen auch unnötige, weil unbegründete Schuldgefühle drangsalieren, die er sich ob seiner bisherigen Unfähigkeit bezüglich der Aufklärung des Verbrechens macht, denn je länger das Unfassbare zurückliegt, desto weniger Chancen räumt er sich und der Polizei ein, Antworten auf das Warum und somit letztendlich auf den Täterkreis zu erhalten. Und dass die Kripo gleichfalls in der Sackgasse zu stecken scheint, schließt er aus der Tatsache, dass er seit Tagen nichts mehr von ihr gehört hat. Alles in allem keine besonders guten Voraussetzungen, um das gequälte Gewissen zu entlasten. Möglicherweise sorgt ja der anvisierte Verdauungsspaziergang für Zerstreuung, auf den sich Claude nach Abschluss seiner bis zuletzt erfolglos gebliebenen Sucherei trotz des noch immer anhaltenden Nieselregens macht, sich durch die Straßen der Innenstadt treiben lassend, die von jener mitunter beängstigenden samstagnachmittäglichen Menschenlosigkeit geprägt ist, die so charakteristisch für deutsche Innenstädte ist, die dadurch geradezu menschenabstoßend wirken, eben wie jener sprichwörtliche seelenlose Betondschungel, in dem Tristesse und Hoffnungslosigkeit das Wochenende über die Oberhand gewinnen, bis er am Montagmorgen durch Hunderttausende von Arbeitswütigen, dank Arbeit sich notdürftig über Wasser Haltenden und dem immer größer werden Bataillon der nach Arbeit Lechzenden, die aus schierer Existenzangst sich auf jedwede Art von Gelderwerb einlassen, wieder zum Leben erweckt wird, doch in der Regel auch dann nur für die Stunden des Tages, in denen der Reichtum dieser Erde noch ein Stückchen ungerechter verteilt wird, wodurch sich die soziale Schere Schritt für Schritt weiter auseinanderspreizt, für den Moment zwar kaum bemerkbar, im Endresultat allerdings mit verheerenden sozialen und irgendwann auch wirtschaftlichen Folgen, über die sich die Herren in ihren Nadelstreifen nur selten Gedanken zu machen scheinen, ganz gleich ob sie in der Wirtschaft oder Politik tätig sind, denn für sie zählt offensichtlich nur das Jetzt und der schnelle Reibach, das Morgen, die Verantwortung gegenüber jedermann, die Bereitschaft zu teilen, gerecht zu teilen, dies sind für sie lediglich schöne Phrasen, wenn es darum geht bei der nächsten Wahl ein neues Mandat zu erhalten oder sich einen anderen gut dotierten Posten unter die Nägel zu reißen, der von Amts wegen an und für sich Selbstlosigkeit fordert, in Wahrheit jedoch in neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen zur Selbstbereicherung missbraucht wird. Gedanken wie diese sind es, die Claude, der sich eigentlich Entspannung von seinem Bummel erhofft hat, beim Anblick der Banken- und Versicherungstürme martern, die sich in diesem Augenblick wie dunkle, unheilkündende - und tun sie dies in gewisser Hinsicht nicht auch? - Mahnmale einer von zunehmender Dekadenz bedrohten Gesellschaft in den regenverhangenen Himmel recken. Wann endlich werden die Menschen aufwachen, ihre unersättliche Gier zähmen können, die sie zu immer größeren Egozentrikern, Egoisten macht, nur darauf bedacht, immer größere Vermögenswerte anzuhäufen, wodurch ihnen nach und nach jegliches Gefühl für wahre Solidarität, Mitleid, selbstlose Hilfe für den Nächsten abhandenkommt, eben ganz einfach jene Bereitschaft, dem Nächsten die gleichen Rechte einzuräumen, wie sie von einigen wenigen vielfach auf dem Buckel der sozial oder wirtschaftlich Schwächeren ausgelebt werden. Irgendwie ist ihm nach Schreien zumute, möchte er die Ungerechtigkeit der Welt lauthals hinausbrüllen, seiner wie in einen Schraubstock gespannten Seele Luft verschaffen. Doch weiß er nur zu gut, dass dies nichts ändern würde, sich kaum jemand finden würde, der sich auf mehr als ein bloßes verbales Bekenntnis bezüglich der herrschenden Ungerechtigkeiten einlassen würde. Mitstreiter im Kampf gegen das Establishment zu finden, dies ist beinahe aussichtslos, dies weiß Claude aus leidvoller Erfahrung, die er in der Vergangenheit zusammen mit seinem Bruder mehrfach machen musste, bloße Überzeugungsarbeit und Logik, Bitten und Mahnungen reichen im Normalfall ganz einfach nicht, um an liebgewonnenen Besitzständen rütteln zu können, nur wer selbst überzeugt ist, ist unter Umständen bereit Änderungen anzupacken, auf Änderungen hinzuwirken, die mit dem Umschwenken in vielen Fällen verbundenen Benachteiligungen, Ausgrenzungen, Schikanen, Schmähungen und Diffamierungen in Kauf zu nehmen.

      Sonntag, 27. April 1997, 20:38 Uhr

      „Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich verspätet habe, aber ich musste noch einen Artikel für die morgige Ausgabe fertig schreiben, und dies hat etwas länger gedauert als ursprünglich angenommen. Ich hoffe, Sie warten noch nicht allzu lange.“

      Eva-Marie Schönes Auftauchen setzt Claudes ungeduldigem Warten endlich ein Ende. Fast hat er schon nicht mehr an ihr Kommen, das eigentlich für acht Uhr abgesprochen war, geglaubt, und mit jeder Minute, die der kleine Zeiger der Uhr über die besagte Stundenanzeige hinausrückte, wuchs die zermürbende Ungewissheit, schwand die Hoffnung, die Zuversicht, die er mit dem von ihr versprochenen Informationsmaterial verbindet, das für ihn, obgleich er es noch nicht zu Gesicht bekommen hat, so etwas wie einen magischen Sesam-Öffne-Dich darstellt, der ihm den Weg für seine weiteren Recherchen ebnen, ihm zumindest dabei entscheidend behilflich sein soll. Worauf er diese doch enorm hohe Zuversicht gründet, ist ihm nicht klar, und daher wunderte er sich auch nicht über die in immer kürzeren Phasen wiederkehrenden Perioden des Zweifels, in denen er sich selbst vor übertriebenen Erwartungen warnte. Davon will er Eva-Marie allerdings nichts sagen, sie nichts von seiner inneren Anspannung und Nervosität wissen und spüren lassen. „Aaah ... schönen guten Abend, schön dass Sie kommen konnten. Machen Sie sich keine Gedanken, ich bin erst vor ein paar Minuten gekommen.“ Schwer zu sagen, ob sie ihm glaubt, ihre Augen jedenfalls geben darüber keine Auskunft, ebenso wenig ihre Reaktion.

      „Da bin ich ja froh, ich hatte schon Angst, Sie wären vielleicht schon gegangen.“

      „Wo denken Sie hin! Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?“

      „Ein Wodka-Martini wäre jetzt nicht schlecht“, akzeptiert sie seine Offerte mit gesenktem Blick, den sie auf die Mappe gerichtet hält, in der sie für einige Augenblicke herumsucht, ehe sie einen prall gefüllten Schnellhefter daraus hervorzieht, in den sie noch rasch einen Blick wirft, um sich zu versichern, den richtigen erwischt zu haben. „Hier bitte, die versprochenen Unterlagen. Ich habe gestern alles zusammengesucht. Hoffentlich hilft es Ihnen weiter.“

      Beinahe gierig, wie ein Verdurstender zum rettenden Labsal greift, nimmt er ihr den dargereichten Hefter aus der Hand, vermeidet es jedoch aus Höflichkeit tunlichst, sofort mit der Lektüre zu beginnen, obwohl er seine lodernde Neugier kaum zu beherrschen imstande ist, die ihn seit dem Erwachen am Morgen in zunehmendem Maße heimgesucht hat, mit ausgelöst wohl durch den ergebnislos verlaufenen Samstagabend, der ihn kein Stückchen weitergebracht hat, ihm wiederrum einige lärmerfüllte, verräucherte Bars und schmierige Hintertürpuffs auf für ihn beschämende und erschreckende Weise zugleich deutlich vor Augen führten, auf welch primitive Art und Weise ein Gutteil der Menschheit zu befriedigen ist, wobei ihn die in vielen Fällen abstoßend wirkende Zurschaustellung weiblichen Fleisches schockierte, ja ekelte, weswegen er sich mitunter nicht des Eindrucks erwehren konnte, in einer Fleischhandlung zu sein, die mit Sonderangeboten - oder sollte man besser sagen: Restposten? - um Kundschaft buhlt. Wieder einmal musste er an die alten Römer denken, daran, auf welch einfache, ja geradezu primitive Art und Weise der Mensch zufriedenzustellen und zu begeistern ist. Erschreckend, aber wahr! Ernüchtert von all den betrüblichen und so wenig Hoffnung und Zuversicht ausstrahlenden Momenten, fiel er nach langem Hin-und-Her-Wälzen in einen ermattenden Schlaf, ohne den angehäuften Trübsinn dadurch abstreifen zu können, im Gegenteil, wie gemartert war er aufgewacht, emotional ausgelaugt, desillusioniert, mit einem einzigen kleinen Hoffnungsschimmer am fernen Horizont, nämlich eben dem Treffen mit Eva-Marie, in das er so große, möglicherweise übergroße Erwartungen setzte. „Wir werden sehen. Wann brauchen Sie es denn zurück?“

      „Wenn Sie wollen, können Sie es gerne behalten. Es ist nur eine Kopie. Allerdings unter der Voraussetzung, es nicht journalistisch zu verwerten.“

      „Wo denken Sie hin, das käme mir nie in den Sinn, ich weiß, welch harte Arbeit dahintersteckt“, zerstreut er mögliche Bedenken ihrerseits. „Das ist wirklich sehr großzügig, vielen herzlichen Dank. Gibt es eine Chance, dies wieder gutzumachen?“ Seine den ganzen Tag über bis jetzt anhaltende Niedergeschlagenheit ist durch die unerwartet erfahrene Generosität beinahe vollständig