»Vielleicht wäre es besser, wenn Sie sich setzen. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«
Sie sagte nichts, setzte sich auf die vorderste Kante einer schwarzen Designer-Ledercouch und sah auf den niedrigen, wengefarbenen Tisch vor ihr.
»Sie sind Frau Thorens?«, er mutmaßte das von der Klingel.
»Juliane Thorens. Ich bin die Freundin von James.«
»Sie leben hier zusammen?«
Sie nickte, »Seit zwei Jahren.«
Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel. Die Tür zur Dachterrasse war geschlossen und so heizte sich der Raum langsam aber sicher immer weiter auf. Hohenstein schwitzte.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Herr Cox heute Morgen verstorben ist.«
Sie sah ihn mit großen Augen an, »Was?«
»Er ist vom Dach des Bankgebäudes gefallen, in dem er gearbeitet hat.«
Eine Träne lief ihre Wange herab.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
Sie schluchzte laut, fing sich dann wieder und antwortete: »Heute Morgen. Er verabschiedete sich ganz früh von mir.«
»Früher als sonst?«
Sie nickte, »Es passierte hin und wieder, dass er sehr früh zur Arbeit ging. Er sagte, dass er dann seine Ruhe hätte. Ich habe mir nichts dabei gedacht.«
Hohenstein bemerkte ein Rumpeln von oben.
»Ist da noch jemand?«
Die junge Frau sah ihn abwesend an, »Das ist niemand.«
Hohenstein stand auf und rief: »Sie da, kommen Sie bitte runter.«
Es dauerte etwas, dann ging die Tür erneut auf und ein Mann mit extrem durchtrainiertem Körper trat auf die Galerie heraus. Er trug eine Jeans und schlüpfte in ein T-Shirt, sodass der Kommissar noch im letzten Moment einen Blick auf ein perfektes, gebräuntes Sixpack werfen konnte.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
»Soyler, Frank Soyler.«
»Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?«
Der Mann nahm aus der hinteren Tasche seiner Jeans eine Brieftasche und reichte Hohenstein die Ausweiskarte.
»Seit wann sind Sie hier?«
Soyler sah auf Thorens, die leise nickte und gab dann an: »Ich kam um zehn.«
Der Kommissar notierte sich Name und Anschrift und entließ den Mann. Er wusste, was hier vorgegangen war.
»Hatten Sie Probleme in Ihrer Beziehung?«
»Nicht mehr, als alle anderen. James verließ die Wohnung immer früh und kam erst spät abends wieder zurück. Meistens hatte er dann keine Energie mehr, schlief oft ein oder ging gleich ins Bett. Wir hatten eher eine Wochenendbeziehung. Während der Woche war er mit seiner Arbeitsstelle verheiratet. Ich hatte mit ihm darüber geredet und wir kamen zu der Übereinkunft, dass wir sexuell keine Ausschließlichkeit erwarten können. Er, weil er zu viel arbeitete, und ich, weil ich es von ihm nicht verlangen konnte, wenn ich es selbst nicht einhielt«, ihr liefen wieder dicke Tränen über die Wangen. Hohenstein bemerkte in diesem Moment erst, wie schön sie war.
»Glauben Sie, dass ihn das belastet hat?«
Sie zuckte mit den Schultern, dann erst begriff sie: »Hat er sich umgebracht?«
»Das wissen wir noch nicht, aber es ist eine der Möglichkeiten.«
Ihr ging allmählich ihre Fassung verloren. Sie weinte nun haltlos und schlug ihre Hand vor den vor Schreck geöffneten Mund. Sie hielt den Bademantel nicht mehr fest und Hohenstein konnte den Ansatz ihrer Brüste sehen.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Warum ziehen Sie sich nicht etwas an und wir gehen eine Runde spazieren? Sie dürfen sich jetzt keine Vorwürfe machen. Es ist noch überhaupt nicht klar, ob es Selbstmord war«, er versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen.
Sie zog wieder ihren Bademantel zu, nickte und stieg die Wendeltreppe hinauf.
Wenige Minuten später stand sie in Jeans und kurzärmeligen Oberteil vor ihm.
»Ich will nicht raus«, sagte sie.
»Kein Problem. Ich muss mir die persönlichen Sachen von Herrn Cox ansehen. Hatte er einen Arbeitsplatz? Einen Computer?«
»Ja, ein Büro. Es ist hier gleich links«, sie deutete auf eine Tür auf der unteren Ebene, die neben dem Eingang vom Flur abging.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?«, fragte sie beiläufig, mit den Gedanken woanders.
»Gerne, nur mit Milch«, sagte er in der Hoffnung, dass sie dadurch etwas abgelenkt würde.
Er öffnete die Tür zum Büro. Ein teuer anmutender Glastisch, weiße Schränke an den Wänden und ein flacher iMac auf dem Tisch. Sonst schien der Raum leer zu sein. Unter dem Tisch stand ein Schubladenschrank. Er war verschlossen. Hohenstein setzte sich auf den bequemen, schwarzen Stuhl und benutzt einen kleinen Schlüssel vom Bund, um ihn zu öffnen.
In der obersten Schublade lagen nur Stifte und Post-It-Blöcke. Die zweite enthielt dünne Heftordner mit Abhandlungen zu Bank-Themen. Alle hatten einen wertig anmutenden Einband, am unteren Rand mit dem Firmennamen: »Sinclair, Barrows & Moss« in schwarzen, modernen Buchstaben und dem unmissverständlichen Hinweis: »Nur für den internen Gebrauch!«
Er las die Titel: »Neuronale Netze mit harmonisch gedämpftem Feedback zur Simulation von Märkten im Hausse-Zustand«, »Elliptische nichtlineare partielle Differentialgleichungen und ihre Anwendung in der Charttechnik im elektronischen Börsenhandel«, »Nash-Equilibrium und die Auswirkung von strategischen Opfern im Hochfrequenzhandel« und so weiter. Hohenstein verstand von diesen Titeln nur wenige Worte. Geschweige denn den Inhalt, den er vereinzelt überflog und Formeln über Formeln sah, teils über mehrere Seiten hinweg ohne ein einziges Wort Text, »Ach du Scheiße«, murmelte er.
In der dritten und untersten Schublade befand sich nur Papier und etwas Büromaterial. Offensichtlich waren die Heftordner das, was es durch das Schloss zu schützen galt.
Als er die Schubladen schloss, stieß er gegen den Tisch. Die Maus verschob sich um einen Millimeter und der Bildschirm ging an. Er blickte auf eine Login-Maske. Benutzername »James«, darunter ein Feld für das Passwort, das er nicht kannte.
»Ich kenne es auch nicht«, sagte Juliane Thorens, sie balancierte eine Tasse auf einer Untertasse in den Raum und stellte sie vorsichtig auf dem Tisch ab.
»Ich würde den Computer gerne an unsere IT-Heinis übergeben. Vielleicht können die daran.«
Sie nickte.
»Was ist in den Schränken?«, Hohenstein deutete auf die weißen Türen hinter sich.
»Ich weiß nicht, das ist James' Zimmer. Es war eine unausgesprochene Regel, dass er hier seinen Rückzugsraum hatte, aus dem ich mich raushalten sollte.«
Er ging zur mittleren Tür und öffnete sie. Reihen von Aktenordnern kamen zum Vorschein. Alle identisch und sorgfältig beschriftet. Die nächste Tür zeigte dasselbe. Die Dritte, die Letzte vor dem Fenster, enthielt Elektronikzeug. Netzteile in einer weißen, durchsichtigen Plastikkiste. Fotoapparate verschiedener Größe und Qualität. Eine Schale mit veralteten Mobiltelefonen. Pappkisten mit allem möglichen Zeug.
»Halten Sie es für möglich ...«, begann Hohenstein einen Satz und brach ab.
»... dass er sich umgebracht hat?«, Juliane beendete ihn.
Sie überlegte eine Weile und antwortete dann vorsichtig: »Wie gut kann man überhaupt jemanden kennen? Wir waren zwar schon vier Jahre zusammen, aber es gibt doch immer Geheimnisse. Wenn Sie mich direkt fragen, ob er sich umgebracht hat, antworte ich: Nein. Aber sicher kann ich mir nicht sein.«