Die zweite Postkarte. Mark S. Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark S. Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742706287
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href="http://www.quotez.net/german/hafen.htm"/> man ansteuert, ist kein Wind günstig.

      SENECA, Epistulae morales ad Lucilium

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      14. Juli 2011

      Im hohen Alter schaut der Mensch auf sein Leben zurück, begleitet von mehr oder weniger warmen Erinnerungen. Bei manchen Personen platzen diese Momente bedeutend früher und unerwartet ins Leben. Kurt Assens ahnte nicht, dass er zu diesen Menschen gehörte.

      Zufrieden verließ Kurt Assens an diesem heißen Sommertag sein Büro im sechsten Stock des Fernsehsenders B7Q. Im vollverspiegelten Fahrstuhl strich er sich durch sein graumeliertes Haar, sah die Schweißflecken in den Achseln seines rosa-pastellfarbenen Hemds und dachte angesichts der leichten Wölbung seiner 54-jährigen Bauchdecke, dass ein wenig mehr Sport seinen 1,85 Metern gut täte, um ein ausgewogenes Verhältnis von Länge zu Umfang wieder herzustellen. Seine blauen Augen erfreuten sich an der kräftigen Sommerbräune und dieser vom Sehnerv weitergeleitete Impuls löste bei Kurt angenehme Erinnerungen an den zweiwöchigen Segelurlaub aus, den er vor Kurzem mit seiner Frau Manuela in der dänischen Südsee genossen hatte. Der Fahrstuhl spuckte ihn in den Eingangsbereich aus. Freundlich verabschiedeten die Empfangsdame und zwei Sicherheitskräfte ihn. Sein sportliches Cabrio, das in einem Stuttgarter Vorort zur Welt gekommen war, stand dankenswerterweise im Schatten. Er öffnete das Verdeck. Während die Klimaanlage seine Füße auf Hochtouren kühlte, ließ der Kopf den Tag Revue passieren.

      Als Leiter des Programmbereichs "Politische Unterhaltung" hatte er mit seinen Redaktionsleitungen die Sendungen der nächsten Wochen durchgeplant. Da viele Mitglieder der Redaktionen im Urlaub waren, hielten sich die Diskussionen im Rahmen. Erholsam war, dass die beiden Platzhirsche Scharzhofer und Ellwanger beide in die Ferien verreist waren und sich nicht den üblichen Brunftkämpfen um die Macht im Bereich der politischen Talkshows hingaben. Scharzhofer neigte zum investigativen, sanft entblößenden Journalismus, während Ellwanger ein Freund der konfrontativen Diskussionsrunden war, die häufig im keifenden Streit rivalisierender Politiker endeten. Beide Formate hatten ihre Berechtigung und wurden laut Meinungsforschern von ähnlich vielen TV-Nutzern konsumiert.

      Dank der Schulferien erreichte Kurt Assens seine weiße Jugendstilvilla im feinen Hamburger Stadtteil Eppendorf schneller als gewöhnlich. Er öffnete mit der Fernbedienung das Schmiedeeiserne Tor und parkte seinen Wagen in der mit Kopfstein gepflasterten Einfahrt. Als Kurt den kurzen Kiesweg zum Treppenaufgang entlang ging, strömte von den roten und weißen Rosen des Blumenbeets, das zur Linken lag, ein verführerischer Duft in den Vorgarten und bezirzte die Rezeptoren seiner Nase. Da der Briefkasten noch nicht geleert war, wusste Kurt, dass Manuela noch nicht zuhause war. Ihre beiden Söhne waren in den Ferien. Karsten, der vor wenigen Tagen volljährig geworden war, befand sich mit seinem Segelverein für zwei Wochen in einem Trainingslager am Gardasee. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Henning war mit seiner Freundin Ina und einigen Freunden für eine Woche nach Ibiza in das Ferienhaus von Inas Eltern geflogen. Kurt schloss die Tür auf und entleerte den Briefkasten. Zwischen diversen Rechnungen und Werbeprospekten schimmerte ein hellblauer Briefumschlag hervor. Kein Absender. Französische Briefmarke, abgestempelt in Paris. Kurt öffnete den Umschlag, entnahm ihm eine Postkarte mit dem Fotomotiv vom Boheme-Stadtteil Montmartre, überragt von der weißen Kapuze der Basilika Sacré-Cœur. Er drehte die Karte um, starrte auf die wenigen Worte; dann folgten ein Erblassen und ein unkontrollierter Adrenalinstoss:

      „Treffen am Montag ~ 25.07. ~ 15.00 Uhr ~ Cafe zeitlos. ~ Wo sind deine Träume geblieben? “

      Susanne!? Konnte das sein? Nach über 20 Jahren! Genau ihr Stil: der wiederkehrende, gewellte Bindestrich! Genau unser Treffpunkt: Cafe zeitlos! Und vor allem: genau wie damals, als sie ohne Verabschiedung aus seinem Leben verschwand und ihm nur einen Briefumschlag zusandte, in der eine Postkarte steckte. Und auch auf der damaligen Postkarte dieselbe an ihn gerichtete Frage: „Wo sind deine Träume geblieben?“

      Damals zog Susanne in die Welt, ließ nichts mehr von sich hören und gewährte ihm nie die Chance, diese eine Frage zu beantworten. Warum jetzt? Warum will sie ihn sehen und was beabsichtigt sie? Kurt verspürte Schwindel und aufsteigende Hitze.

      Kapitel 2

      13. Juli 2011

      Als Kurt Susanne begegnete, studierte er im elften Semester Germanistik, zwar mit literarischer Leidenschaft doch ohne berufliche Ambitionen und vor allem ohne Eile. Begeistert hatten ihn Hesse und Nietzsche. Der Schiller- und Lessing-Kult war ihm suspekt; Goethe zollte er Respekt. Ihn faszinierte Hesses Narziß, in dessen Ebenbild Kurt sich ein wenig gespiegelt sah. In Kleinigkeiten verlor er sich gern; genoss das Sein im Jetzt und Hier. Keimten philosophische Fragen und Gedanken in ihm auf – was nicht selten passierte – hielt er sie auf Zetteln fest, die er in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung an Möbel und Türen klebte. Ihn einen Tagträumer zu nennen, hätte ihn falsch beschrieben; genießender Alltagsbewältiger entspräche eher dem Hammer auf dem Nagelkopf.

      Kurt war lange das Sorgenkind der Familie. Als Frühchen kam er zur Welt. Sein Körperwachstum schritt nur sehr langsam voran. Dazu war Kurt still und introvertiert. Im Vorzeigestadtteil Harvestehude führte sein Vater Dr. Assens eine gut laufende Kanzlei, in die Kurts sieben Jahre älterer Bruder Dieter später mit promoviertem Schritt eintrat. Seine Mutter hatte eine kaufmännische Ausbildung absolviert, allerdings nie in dem Beruf gearbeitet und beschäftigte sich leidenschaftlich mit der Aufzucht ihrer Kinder.

      Sein Vater, der sehr viel Wert auf gesellschaftlichen Status legte, hatte bisher mit den schulischen Leistungen seines ältesten Sohnes Dieter und der musischen Begabung seiner Tochter Gerlinde in seinen Juristenkreisen geprallt. Ein kleinwüchsiges, stilles Kind passte gar nicht in dieses Selbst- und Weltbild. Zu anderen Kindern in der Nachbarschaft hatte Kurt wenig und wenn eher zufälligen Kontakt. Auch forcierten seine Eltern dieses nicht. So wuchs Kurt sehr umhütet und isoliert auf, sprach wenig und durchlebte eine introvertierte Kindheit. Um seine körperliche Entwicklung zu forcieren, wurden Kurt ab dem vierten Lebensjahr regelmäßig Wachstumshormone gespritzt. Zur Freude der Eltern nahm seine Körpergröße in den nächsten Jahren zu. Bei seiner Einschulung überragten alle Erstklässer ihn, jedoch wirkte Kurt nicht mehr kleinwüchsig. Dieter wurde lange Zeit von Klassenkameraden und Nachbarkinder wegen seines Zwergenbruders verhöhnt. Seine Frustration und Verärgerungen gab er zuhause an seinen Gnom von Bruder weiter. Wenn ihre Mutter dieses mitbekam, stellte sie Dieter zur Rede und bat ihn um bemitleidende Rücksichtnahme. Andererseits nahm Dr. Assens Dieter in Schutz und wies seine Frau daraufhin, dass es nicht angehen könne, dass der älteste Sohn unter den körperlichen Unzulänglichkeiten des jüngsten Familienmitglieds leiden müsse. Diese Auseinandersetzung wurde von Seiten Dr. Assens gelegentlich laut und stets resolut geführt. Sie endeten im Schweigen der Mutter. Dieter fühlte sich bestätigt und piesackte seinen Bruder weiter. Jener zog sich in sein inneres Schneckenhaus zurück. Gerlinde, die fünf Jahre älter als Kurt war, wurde wie eine Prinzessin von den Eltern hofiert. Sie hatte lange, blond-goldene Haare, eine musische Begabung und war ein Beispiel par Excellenze für mädchenhafte Tugendhaftigkeit. Gelegentlich gewährte sie ihrem jüngeren Bruders ein wenig Aufmerksamkeit.

      Die wesentliche emotionale Stütze