Die Stille im Dorf. Karl Blaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Blaser
Издательство: Bookwire
Серия: Eifel-Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742721648
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es nicht mehr allein schaffe ohne dich, und dass du hier auf dem Hof mehr gebraucht wirst als in Russland.«

      »Nein«, sagt sie dann. »Ich geh jetzt gleich!«

       Anne-Kathrin wirft die Bettdecke zurück und will aus dem Bett springen. Niklas hält sie zurück, nimmt sie in den Arm.

      »Lass es bleiben, Mutter. Es ist mitten in der Nacht. Das ist keine gute Idee.«

      »Ja, vielleicht hast du Recht. Ich warte bis zum Morgen. Jetzt bring ich ihn damit nur auf die Palme.«

       Niklas nickt.

      »Bestimmt. Leg dich wieder schlafen.«

      »Hauptsache, du bist da«, sagt Anne-Kathrin.

       Seufzend sinkt sie zurück ins Kopfkissen.

      »Ich laufe schon nicht weg«, sagt Niklas und lächelt. »Schließlich hab ich Geburtstag.«

      »Ich weiß, mein Junge. Wir werden feiern. Und alle werden kommen, du wirst sehen! Es ist alles vorbereitet. Alle wissen Bescheid.«

      »Das hast du richtiggemacht. Morgen feiern wir, dass die Schwarte kracht.«

       Niklas steht auf und geht in seine Schlafkammer. Die durchweichte Uniform klebt an der Haut. Er zieht sie aus, rückt den Stuhl heran und hängt die nassen Kleider zum Trocknen darüber. Auf der Kommode liegt frische Wäsche für ihn bereit. Im Ofen knistert das Feuer. Er wird wieder Bauer werden, wenn der Krieg aus ist. Er wird wie früher sähen, ernten, das Haus streichen, die Wiesenzäune reparieren, abends der Mutter beim Brotbacken helfen, aus Vaters alter Tasse trinken und den Mehlschwalben beim Nestbau zusehen. Vor allem aber wird er Margarete heiraten und mit ihr Kinder haben. Viele Kinder. Niklas liebt Margarete. Er kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Die Mutter weiß davon nichts. Er traut sich nicht, es ihr zu sagen. Wenn alles nur so einfach wäre!

      Als kleiner Junge träumte er davon, im Herbst mit den Schwalben auf und davon zu segeln. Aber inzwischen weiß er: Ein Bauer muss graben, wo er steht. Sein Leben ist hier, nicht anderswo. Niklas will kein Zugvogel sein. Er gäbe alles, könnte er nur bleiben.

       Bei Margarete.

       Bei seiner Mutter.

       Bei Penelope.

      *

      Niklas hat Geburtstag. Er wird zwanzig. Das halbe Dorf ist am Abend zum Spielen in Anne-Kathrins kleine Küche gekommen, verrußt und schwarz ist sie, stumpf und abgegriffen. Ein Schrank, ein Tisch, ein paar Stühle, eine schmale Holzbank am Fenster, von dem aus man den Kirchplatz sehen kann. Das Marienbild an der Wand, das abgehängt wurde, hat ein vergilbtes Viereck über der Eingangstür hinterlassen.

       Niklas fühlt sich mehr und mehr unwohl zwischen den vielen Bauernleibern, die in die Küche drängen. Er schüttelt ihre Hände, klopft ihnen auf die Schultern. Endlich tänzelt auch Margarete, begleitet von Anna und Johann, in die Stube. Sie lächelt und schwingt mit den Hüften, als habe sie ein Vorspiel am Theater. Anna küsst ihre Cousine Anne-Kathrin auf die Wange, sie sind sich eng verbunden. Um ein Haar wäre auch Margarete ihrem Niklas um den Hals gefallen, ihr Herz pocht, es droht sich zu überschlagen. Fast wird ihr schwindelig, als sie in seine blauen Augen sieht, die leuchten wie zwei Sterne. Sie will seine Haut streicheln. Ihn berühren. Ihn küssen. Aber das geht nicht. Niemand weiß, dass sie sich in der Scheune nahgekommen sind und sich ein Versprechen gegeben haben. Und so bleibt es nur bei einem freundlichen: »Schön, dass du mitgekommen bist, Margarete.«

       Am liebsten würde Niklas alle rausschmeißen, in hohem Bogen. Am liebsten würde er mit der Faust auf den Tisch hauen und rufen: Haut ab, verpisst euch! Sauft euren billigen Fusel woanders! Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe! Geht doch nach Hause, Schweine füttern, Kühe melken und geduldig wie die Schafe hier oben am Nürburgring abwarten, bis der Spuk vorüber ist. Gern würde er in die Welt schreien, dass er Margarete liebt! Aber zuallererst muss er es der Mutter sagen. Er atmet tief durch. Verkrampft versucht er, mit allen zu scherzen, mit ihnen zu lachen, denn seinetwegen sind sie gekommen. Immer wieder sucht er Margaretes Blick. Sie sitzt eingequetscht neben ihrem Vater am anderen Tischende. So weit weg von ihm. Sie lächeln sich verstohlen an. Sie prosten sich zu. Den Abend lang. Wie hübsch Margarete ist! Niklas kann die Augen nicht von ihr lassen: Wann wird er ihre Lippen berühren? Wann haben sie sich ganz für sich allein?

       Einen aufgesetzten Holunderlikör nach dem anderen kippt der Soldat sich hinter die Binde. In der Eifel gedeiht der ‚Sambucus nigra‘, der Schwarze Holunder, besonders üppig, er wächst mit seiner weißen Blütenpracht im Frühjahr und den dunkelrot leuchtenden Beeren im Spätsommer an jeder Scheunenmauer, in jedem Garten. Der Likör fließt süß durch Niklas’ Kehle, besänftigt seine Wut, dass er nicht mit Margarete allein sein kann, wo die Zeit doch kostbar ist, der Zeiger der Uhr sich so schnell dreht, dass ihm schwindelig wird; wo die Herzen der Verliebten pochen, dass es alle hören müssten: dumdediedum, dumdediedum, dumdediedum. Ein paar Tage nur, dann muss er wieder fort.

       Die Gäste haben sich um den Küchentisch versammelt, besser gesagt, hier rekelt und fläzt sich die bäuerliche Gesellschaft, sie kann sich kaum noch auf den wackeligen Stühlen halten. Alles stammelt und lallt, rülpst, furzt und röhrt das ewige Lied vom schönen Westerwald, das auch hier in der armen Eifel gesungen wird, als sei die Zeit stehen geblieben; als wüssten nicht alle, dass in Deutschland längst andere Lieder gegrölt werden. Nicht über die kalte Eifel, nicht über den steinigen Hunsrück, nicht über den buckligen Westerwald: An der russischen Ostfront, da pfeift der Wind so kalt!

       Eingezwängt zwischen den dampfenden Leibern hockt Niklas in der inzwischen wieder trockenen Gefreitenuniform, lächelt gequält, prostet brav den Gästen zu. Ihm dröhnt der Kopf. Die Mutter schleicht um ihn wie eine Katze um ihr einziges Junges.

       Niklas wird zwanzig. Er liebt Margarete, die inzwischen auch einen roten Kopf bekommen und zu viel Holunderschnaps getrunken hat. Soll er sich bei so einer Feier über ein paar besoffene Bauerntölpel beklagen? Wer beschimpft da seine Gäste, auch wenn sie noch so falsche Lieder singen? Sollen sie doch ihren Spaß haben, sich herumlümmeln, die Gläser umstoßen, den Schnaps über Joppe und Kleid, über den Tisch und die roten Holzdielen kippen, die mit Ochsenblut poliert sind, dass sie selbst im schummrigen Licht noch glänzen.

      »Trink einen Schnaps mit deinen Leuten, Niklas!«, fordert ihn die Mutter auf.

       Kamerad Paul hätte bestimmt auch nicht gekniffen. Paul, den an seinem Achtzehnten, ganze zwei Wochen war es her, eine russische Granate zerfetzt hatte. Das Nachmittagslicht fiel in ihren Schützengraben, wo sie, eng nebeneinander gekauert, seit Stunden in der Kälte ausgeharrt hatten, als Pauls Leib in tausend Stücke zerbarst. Klein und hager war er gewesen, eher unscheinbar, das Gesicht rundlich, die Augen leuchtend, immer hellwach. Er beklagte sich nie, nicht einmal darüber, dass sie keine Handschuhe, keine Socken, keine Stiefel hatten, um diesem verdammten russischen Winter zu trotzen. Vielleicht ist es dem Alkohol geschuldet, dass Niklas immerzu an den schmächtigen Hamburger Kameraden Paul denken muss.

       Die Erinnerung ist wie ein trübes Maar.

       Paul hatte ihm am Morgen verraten, dass er an diesem Tag Geburtstag habe, aber nur Niklas sollte es wissen.

      »Warum hast du keinen Urlaub beantragt, du Dummkopf?«

       Paul schwieg. Er schüttelte den Kopf.

      »Ich weiß nicht«, antwortete er, »wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich verrückt bin. Aber ich weiß es wirklich nicht.«

       Niklas zog einen Zigarettenstummel hervor, den er mit Daumen und Zeigefinger festhielt und mit einem Streichholz anzündete.

      »Da, nimm!«

       Niklas hielt dem Hamburger den glühenden Tabakrest vor die Nase, Paul nahm einen tiefen Lungenzug und begann zu hüsteln.

      »Das ist alles, was ich dir zum Geburtstag schenken kann. Ein paar Züge von meiner Zigarette«, sagte Niklas.

       Paul nickte nur. Er machte nie viele Worte, schweigsam war er, in sich gekehrt. Aber an diesem Morgen sprudelten die Sätze aus ihm heraus wie das Wasser aus den Eifler Dorfbrunnen. Er plauderte von Hamburg,