Zwei Tage später waren sie gekommen und hatten auch Jakobs Kurzwarenladen kurz und klein geschlagen, ihn getreten, angespuckt und gerufen: »Verschwinde Jude!« Anna hatte den Biber-Hut niemals getragen. Er war in jener Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Jakobs Laden verbrannt.
»Und was ist mit diesem Jakob passiert?«, will Margarete wissen.
»Wir haben im Dorf erst Tage später erfahren, was geschehen war. Da hatte Jakob Rosenwasser die Stadt schon lange Hals über Kopf verlassen. Es hieß, er sei mit nichts mehr als seinem nackten Leben auf dem Weg nach Amerika. Mathilde hat erzählt, dass er seine Haut gerade noch rechtzeitig hatte retten können. In New York habe er einen neuen Krämerladen aufgemacht.«
Margarete nimmt die Mutter zärtlich in die Arme.
»So war das damals«, sagt Anna verlegen. »So war das, mein Kind. Es war nicht alles schlecht. Ich war glücklich damals. Es ist ja noch gar nicht so lange her.«
Anna steht auf. Sie schaut nachdenklich aus dem Fenster.
»Wie es Micha wohl geht«, fragt sie. Sie schaut sich um und verlässt das Zimmer.
Margarete geht dieser Eifeljude Jakob tagelang nicht mehr aus dem Sinn. Ob er es wirklich bis nach Amerika geschafft hat? Bis nach New York? Da werden sich die jungen Frauen wohl nicht so zieren wie hier! In New York wird es sicher viele Fräuleins geben, die Hüte tragen, aus Samt und Seide oder gar aus feinem Biberhaar. So einen Hut möchte ich auch einmal tragen, denkt Margarete.
Ob sie es jemals bis nach New York schaffen wird?
6
Mitte März 1945
Anna steht vor ihrem Spiegel, alt das Gesicht, grau die Haare. Das erste Mal hat sie ein offenes Gespräch mit ihrer Tochter geführt. Sie erinnert sich an Jakob Rosenwasser. Der kleine Jude wollte, dass sie Hüte trägt. Er hatte gesagt, einen Hut müsse man so sorgsam auswählen wie einen Ehemann. Noch nie hat Anna einen Hut getragen, das einzige Mal war in Jakobs Krämerladen. Sie hatte gezögert, den Hut mitzunehmen, sich nicht getraut. Ihren Ehemann Johann dagegen hatte sie im Kopfstand ausgewählt und mit aufs Dorf genommen. Jakob sollte Recht behalten. Aber was Jakob nicht gesagt hatte: Ihren alten Hut weiß eine Frau leichter abzulegen als ihren alten Mann. Johann, der ihr damals auf dem Marktplatz mit seinem Mundharmonikaspiel den Kopf verdreht hatte, schläft nicht mehr bei ihr in derselben Kammer, er wärmt sich nicht mehr in ihrem Bett. Aber es ist ihr inzwischen völlig gleichgültig, wo er sich herumtreibt, sie könnte seine intime Nähe gar nicht mehr ertragen. Er soll sie nur in Ruhe lassen, sie nicht mehr anfassen und stattdessen andere Weiber begrapschen. Das ist es, was sie will: In Ruhe gelassen werden!
Anna schöpft Wasser in ihre hohlen Hände und lässt es vorsichtig auf ihr Gesicht tropfen. Langsam fließt es ihren Hals hinunter über ihre immer noch festen Brüste wie ein kleiner Bach. Sie verreibt es sanft zwischen den Fingern. Warum hat sie sich nur für Johann entschieden? Wie konnte sie sich von ihm blenden lassen und ihn aus der Stadt mitbringen wie einen Einkauf, über den man sich hinterher selbst wundert, wenn man ihn zu Hause aus der Tüte kramt? Er war ein absoluter Fehlgriff, dieser Johann, sie hätte wissen müssen, dass er fürs Dorf nicht taugt, dass er auf dem Land nicht glücklich werden würde. Anfangs hegte er vielleicht beste Absichten. Er gab sich durchaus Mühe, aber der beschwerliche Alltag auf dem Bauernhof hier in dieser ärmlichen Gegend erstickte rasch jede anfängliche Begeisterung in ihm. Hinter einem Ochsen und einem Pflug herzulaufen über steinige Felder, das war er schneller satt, als Anna lieb war, aber als sie es erkannte, als sie erwachte aus ihrem süßen Liebestraum, da war es zu spät, ihn wieder abzulegen wie einen gebrauchten Hut. Anna bekam seinen Unmut schnell zu spüren, und nur ein einziges Mal stellte sie ihn zur Rede.
»Wo bist du die Nacht gewesen?«
Johann griff nach der vollen Kaffeetasse, die vor ihm auf den Tisch stand, warf sie ihr an den Kopf. Und das war nicht die einzige Tasse, die durch die Küche flog.
»Das geht dich gar nichts an! Wag es nicht noch einmal, mir hinterherzuspionieren!«
Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen können. Das erste Kind, ein kleiner Junge namens Michael, krabbelte vor ihr auf dem Boden, und das zweite Kind trug sie in ihrem Leib. Anna hoffte innig, dass es ein Mädchen würde, und als es geboren wurde, gaben sie ihm den Namen Margarete: Perle, Kind des Lichts. Was blieb Anna da anderes übrig, als zu schweigen. Zu ihrem größten Überdruss musste sie dann zusehen, wie sich Johann mit den Nazis einließ, diesen Nichtsnutzen und neuen Heilsbringern, die den Eifelbauern eine schönere Zukunft versprachen. Es waren viele, die darauf hereinfielen, zu viele. Als würde sich mit den Nazis die Arbeit von alleine machen. Welch einem Trugschluss waren die meisten Bäuerchen erlegen.
Gibt es sie wirklich, diese eine Liebe, fragt sich Anna, während sie ihr verhärmtes Gesicht im Spiegel betrachtet. Stadt und Land passen nicht zueinander, ihre alten Eltern hatten sie gewarnt. Aber sie hatte nicht auf sie gehört. Heute weiß sie, dass sie einen Jungen aus dem Dorf hätte nehmen sollen wie die anderen Frauen.
Aber ob die glücklicher sind? Anna vermag es nicht zu beantworten. Nur eines hat die Erfahrung sie gelehrt: Männer bringen Unheil, so oder so, einer wie der andere, sie sind alle gleich. Und die Frauen halten dicht, sie schließen sich mit ihrem Unglück ein. Anstatt einen kräftigen Durchzug zu veranstalten und frischen Wind in die Stube zu lassen, machen sie schnell Fenster und Türen zu und vergraben sich in ihrem Selbstmitleid. Alles wunderbar, sagen sie ihren Freundinnen: die Ehe, die Kinder, die Arbeit, das Leben. Alles in bester Ordnung, auch wenn sie noch so unglücklich sind. Frauen igeln sich ein, sie schlucken das eigene Leid hinunter, anstatt sich ihm zu verweigern und es auszukotzen wie eine Mahlzeit, die sie nicht vertragen haben. Über alles reden sie gern und machen viele Worte, nur die eigene Wahrheit wollen sie nicht hören. So sind sie, die Frauen hier im Dorf und vielleicht auch anderswo, aber das kann Anna nur vermuten, denn ihre Fußspur reicht nicht weiter als bis zu der kleinen Stadt, in der sie Johann aufgegabelt hatte. Hier endet ihr Horizont: zwei Fahrradstunden vom Dorf entfernt. Nein, die Weibsbilder hier tragen keine Hüte, keiner Frau würde es einfallen, mit einer Windstoßfrisur, die Schläfenhaare nach vorn gekämmt, auf die Straße zu gehen. Und hier, nicht anderswo, spielt ihr verdammtes Leben!
Der Tag fällt in Annas armselige Schlafkammer. Sie könnte viel erzählen, aber nichts, was für andere Ohren bestimmt ist. Auch mit ihrer Tochter Margarete kann sie nicht über alles reden. Das ist vielleicht ein Fehler. Sie will nicht, dass es ihrer Tochter einmal genauso ergeht, wie es ihr ergangen ist. Sie will, dass Margarete glücklich wird. Sie hätte es niemals zugelassen, dass sie diesen Niklas heiratet, ihren Großcousin. Aber andererseits: Die meisten jungen Männer sind in diesem verfluchten Krieg umgekommen. Die Auswahl an gesunden Männern ist nicht mehr allzu groß. Nicht nur um Micha, auch um Margarete macht sie sich Sorgen. Sie will nicht erleben, dass eines ihrer Kinder vor ihr stirbt. Micha erbt den Hof. Aber was soll aus ihrer Tochter werden, wenn der Krieg vorbei ist? Sie braucht einen Mann. Johann zermartert sich darüber nicht den Kopf. Anna hat ihn schon früh die Treppe herunterpoltern hören. Er ist aufgestanden, hat sich seine braune Hakenkreuzuniform angezogen, einen schwarzen Kaffee aufgebrüht, und dann hat er das Haus verlassen, seit Wochen schlecht gelaunt, weil seine Nazifreunde keine Siege mehr verkünden können. Am besten ist es, man geht ihm aus dem Weg.
Anna hat an diesem Morgen viel Zeit vertrödelt. Sie zieht sich rasch an, legt etwas Holz im Schlafzimmer-
ofen nach. Eine Woche noch bis Palmsonntag, und sie muss noch die Fußböden schrubben und wachsen und im Haus klar Schiff machen, wieder einmal steht Ostern vor der Tür, und wieder einmal glänzt Johann den ganzen Tag über durch Abwesenheit. Er zieht von Hof zu Hof, die Moral der Bauern liege am Boden, sagt er, wenn er abends müde heimkommt. Auch Anna weiß, dass alliierte Fliegerbomben auf die deutschen Städte prasseln. Beim neunundsiebzigsten, dem letzten Luftangriff auf Osnabrück an Palmsonntag, am Vormittag des 25. März 1945, kommen mindestens einhundertachtundsiebzig Menschen ums Leben,