»Ja, das schoss mir durch den Kopf. Und es stimmt ja auch. Heute noch mehr als damals. Oder kannst du mir eine Frau im Dorf nennen, die herumläuft wie ein geschmückter Weihnachtsbaum?«
Margarete schweigt. Sie will das nicht kommentieren.
Anna erzählt weiter: Auf der Theke stapelten sich Stoffe, Dosen mit Knöpfen in allen Größen, Farben und Formen, Garn und Zwirn, Socken und Strumpfbänder. Annas Blick fiel auf einen Hut.
So einen hatte sie noch nie gesehen. Sie trat näher und fuhr mit ihren rauen Fingerkuppen darüber. Weich war er wie das Fell eines kleinen Kätzchens. Ein Hut, dachte sie, aus dunkelrotem Haarstoff. So einen Hut hatte im Dorf keine. Und wie gut er sich anfühlte! Aber die Frauen im Dorf banden sich Kopftücher um. Ihre Mutter hätte es niemals erlaubt, dass sie sich mit einem Hut auf der Straße zeigte. Und nur um die Kühe und die Hühner im Stall damit zu beeindrucken, dafür war er viel zu teuer. Anna war eine Bäuerin, die trugen keine Hüte. Schuster bleib bei deinen Leisten, fuhr es durch ihren Kopf.
Hinter einem Kleiderständer lugte auf einmal das verschmitzte Gesicht des Juden hervor. Seine Haut glänzte. Er hatte ein einnehmendes Lächeln.
»Der Jud‘ konnte einen glauben machen, dass alles, was er feilbot, wertvoll sei. Selbst ein billiger Hosenknopf. Sein Mund war sehr schmeichlerisch«, erzählt Anna.
»Das junge Fräulein mal wieder in der Stadt«, fragte er.
»Heut war ja Markt«, sagte Anna. »Ich muss mich beeilen, damit ich im Hellen zurück bin.«
»Sucht das junge Fräulein was Bestimmtes?«, erkundigte sich Jakob, »vielleicht einen neuen Hut?«
»Er nannte dich Fräulein?«, fragt Margarete.
»Ja, er sagte Fräulein zu mir. Dieser Jud‘ musste mich beobachtet haben.«
»Ich soll Priem für den Vater mitbringen«, sagte ich.
»Sofort.«
Er kramte eine Blechdose aus dem Regal hinter sich hervor. Er reihte die Kautabakrollen auf die gläserne Theke.
»Pflaume ist jetzt ganz groß in Mode bei den Herren der Gesellschaft. Pflaume kann ich wärmstens empfehlen.«
»Nein, bloß nicht! Lakritze muss es sein.«
»Natürlich, Lakritze, mein Fräulein! Hier die Lakritze für den Vater. Darf es sonst noch etwas sein für das junge Fräulein?«
»Ach, ja, und graues Stopfgarn«, erinnerte sich Anna.
Das hätte sie beinahe vergessen. Er zog eine weitere Dose hervor und öffnete sie wie einen kostbaren Schatz.
»Warum probiert das junge Fräulein den Hut nicht mal an?«, fragte er, sprang hinter der Theke hervor, nahm den Hut von der Puppe und hielt ihn Anna direkt vor die Nase.
»Gefällt er dem jungen Fräulein etwa nicht? Ein schöner Stoff ist das. Aus kostbarem Biberhaar gefertigt.«
Er griff nach Annas Hand, führte sie sanft über die Hutoberfläche.
»Das Fräulein kann ihn ruhig einmal anprobieren. Probieren kostet nichts.«
»Ja ... aber ... ich«, stammelte Anna.
Jakob drückte ihr den Hut an die Brust und verschwand wieder hinter der Theke, die verunsicherte Kundin aus der Entfernung betrachtend.
»Setzen Sie ihn auf, ich drehe mich um und zähle bis drei. Eins … zwei …«
Ungelenk stülpte sich Anna den Hut über den Kopf.
»… und drei!« Jakob drehte sich blitzschnell um seine Achse. »Voilà! Wunderwunderwunderschön!«
Mit einem Spiegel in der Hand kam er wieder hinter der Theke hervor.
»Erlauben Sie?«
Er schob den Hut etwas in ihr kleines, rundes Gesicht.
»Steht er mir?«
Anna spürte, dass sie errötete.
»Das fragt das Fräulein noch? Sehen’s nur! Spiegel lügen nicht!«
»Weiß nicht«, murmelte Anna verlegen.
Sie betrachtete sich eine Weile, drehte sich nach links, nach rechts. Noch nie hatte sie sich mit Hut gesehen. Er veränderte ihr Gesicht! Ob der Jude den Hut wohl gegen ein Suppenhuhn eintauschen würde? Ein Huhn weniger auf der Wiese würde sicher keinem auffallen.
»Im Dorf tragen die Frauen aber keine Hüte«, sagte Anna.
Sie nahm den Hut vom Kopf und drückte ihn Jakob in die Hand.
»Ich lege ihn bis zum nächsten Markttag zurück. So ein Hutkauf will überlegt sein. Ein Hut ist schließlich was fürs Leben. Wie ein Ehemann. Schlafen Sie ruhig noch einmal drüber.«
Das leuchtete Anna sofort ein. Sie nickte zögernd, fast kaum sichtbar, mit dem Kopf.
»Einverstanden! Legen Sie ihn bitte zurück!«
Sie reichte ihm die Geldscheine über die Theke, fünfzigtausend, vielleicht hundertfünfzigtausend schwindelige Reichsmark. Die Inflation galoppierte schneller als ein junges Rennpferd. Sie verzeichnete täglich einen neuen Rekord. Und täglich wurden die Menschen ärmer.
Sie huschte aus dem Laden. Der Jude drückte sein Gesicht gegen die Türscheibe, sah ihr nach, wie sie zurück zu den Marktständen floh. Über seinem Kopf prangte in Sütterlinschrift der Name: Jakob Rosenwasser.
Das Marktspektakel war zu Ende, ein Mann kehrte mit einem Besen aus Weidenzweigen den Unrat beiseite, nur Johann saß noch am Brunnen und spielte auf seiner Mundharmonika.
Anna wollte über den Marktplatz eilen, blieb aber stehen und lauschte der Melodie. Die Töne der Mundharmonika tanzten federleicht um den Brunnen, verfingen sich in ihrem Haar. Ihre Augen trafen die des Mundharmonikaspielers. Die abendliche Julisonne wärmte den Basalt und fiel weich auf sein Gesicht. Er lächelte sie an, und Anna trat, wie von einem Magneten angezogen, ein paar Schritte näher heran, näher auf den Mann zu, in den sie sich in diesem Augenblick unsterblich verliebte.
»Ich komme immer hierher, wenn Markt ist«, rief er ihr nach. Sie drehte sich mit rotheißen Wangen noch einmal um, bevor sie schleunigst das Weite suchte.
Die beiden hatten sich schon bald wiedergesehen. Anna war eine Woche drauf wiedergekommen. Die Wochen darauf hatte sie ebenfalls einen Vorwand gesucht, um in die Stadt zu radeln. Und dann wieder und wieder. Eines Tages hatte sie ihn mitgenommen aufs Dorf: wie einen ihrer Einkäufe aus Jakob Rosenwassers Kurzwarenladen. Was für ein Fehler! Was für ein fataler Irrtum!
Anna öffnet ihre Augen. Wie flugs ist die Zeit seitdem vergangen! Es kommt ihr vor, als sei es gestern gewesen. Bald darauf hatte es Namen wie Rosenwasser in der Stadt nicht mehr gegeben, auch Jakob hatte diese Stadt, hatte Deutschland verlassen müssen. Nicht etwa, weil er sich aus freien Stücken dazu entschlossen hatte. Nicht etwa, weil er es satthatte, in dieser kleinen Stadt hinter der Ladentheke zu stehen und Kurzwaren zu verkaufen. Den Grund seiner Abreise lieferte ein junger Mann namens Herschel Grynszpan. Am Morgen des 7. November 1938 war der Jude in der deutschen Botschaft in Paris erschienen, er hatte sich beim Amtsgehilfen gemeldet und einen der Legationssekretäre sprechen wollen. Man führte ihn zum Gesandten vom Rath, und der Eindringling hatte sofort, nachdem er in das Zimmer eingetreten war, zwei Schüsse auf den deutschen Gesandten abgefeuert, ohne dass sie vorher ein Wort miteinander gewechselt hatten. Sogleich hatte Herschel versucht, aus dem Gebäude zu flüchten, aber der Amtsgehilfe verständigte umgehend den französischen Polizeibeamten, der vor dem Botschaftsgebäude Wache schob. Der Attentäter wurde verhaftet, später ohne Prozess hingerichtet. Und der hinkende Doktor Goebbels hatte gleich mit der ersten Meldung über das Pariser Attentat am Tag darauf im »Völkischen Beobachter« gesagt, was die Juden jetzt zu erwarten hätten: Es sei klar, dass das deutsche Volk aus dieser Tat seine Folgerungen ziehen werde. Es sei ein unmöglicher Zustand, dass