Timofejew hatte ursprünglich die Sauferei unter den Teppich kehren wollen. Macht einen schlechten Eindruck in Moskau, wenn man dort erfahren muss, dass er seine Zöglinge nicht richtig im Griff hat. Doch die Jungs aus dem Team der Kremlverwaltung waren ihm in den Arm gefallen „Was denn, bist Du verrückt geworden? Willst Du etwa die Störung der Veranstaltung an die große Glocke hängen? Willst Du ihn bestrafen, weil er öffentlich widersprochen und seine Meinung gesagt hat?“
„Aber wir müssen doch standhaft, konsequent…“ Timofejew, der sonst so Redegewandte, stotterte hilflos angesichts des Gegenwindes, den er unerwartet verspürte. „Mensch, unsere Feinde warten doch nur darauf, dass wir Fehler machen. Und sie sind überall, auch hier“, belehrten ihn die geleckten Moskauer Typen. Timofejew schaute sich unwillkürlich um, als stünde der Gegner bereits hinter ihm.
„Quatsch“, fuhren im die Aufpasser in die Parade. „Natürlich nur bildlich gesprochen, obwohl uns noch zu viel Informationen über das Lagerleben nach außen dringen. Da muss was passieren. Aber darum geht es jetzt nicht. Jetzt müssen wir ein Exempel statuieren und gleichzeitig verhindern, dass verleumderische Gerüchte die Runde machen. Oder möchtest du, dass es im Internet heißt, Wolkow sei gemaßregelt werden, weil er den Präsidenten kritisiert hat? Dass es selbst im Lager am See schon unzufriedene Stimmen gibt, in einer Zeit, wo die mit Dollars bezahlte Opposition sich mausig macht?“
Timofejew, aufgewachsen im Labyrinth der Bürokratie mit ihren Fallstricken, begann zu ahnen, worauf seine Kuratoren hinaus wollten. Es galt Wolkow zu maßregeln, ohne dass ein Zusammenhang mit der Veranstaltung vom Vortage hergestellt werden konnte.
„Also, Wolkow…“, knurrte Timofejew den Täter an. Borja, inzwischen bereit, ausgiebig Selbstkritik zu üben, murmelte so etwas wie „Hätte besser den Mund halten sollen…, bei so einer Veranstaltung…, Disziplin üben…“
Timofejew wischte die Worte mit einer Handbewegung in die Zeltecke. „Wolkow, darum geht es nicht!“ Überraschung und Unverständnis machte sich auf Borjas Gesicht breit. Da waren also seine ganzen Überlegungen des Morgens vergebens gewesen, zum Teufel. Was aber wollte der Lagerchef?
„Du hast gesoffen, nicht zum ersten Mal übrigens“, sagte Timofejew. Wobei die Lautstärke sich auf der nach oben offenen Dezibel-Skala deutlich aufwärts bewegte. Na und, dachte Borja, ich bin doch nicht der Einzige, und du mit deinen Dorfschönen? Das geht doch auch nicht ohne erfrischende Getränke ab.
Dieser Gedanke zauberte ein leises Grinsen auf sein Gesicht, was Timofejew prompt missverstand. „Da gibt es nichts zu Grienen, Du hast grob gegen die Lagerordnung verstoßen, das zieht strenge Konsequenzen nach sich!“ Die Typen im Hintergrund nickten zustimmend mit ihren gegelten Köpfen.
„Deine Zeit hier ist zu Ende. Wache!“ brüllte der kleine Napoleon aus voller Kehle. Zwei Muskelprotze stürzten herein, bereit, jeden Widerstand im Keime zu ersticken. Aber da stand nur Borja, erschrocken vom Verlauf seines Gesprächs und zu keiner physischen Aktivität fähig. Seine wie zugeschnürte Kehle ließ nur ein Krächzen hören. „Begleitet den Burschen“, befahl Timofejew. „Er hat 30 Minuten Zeit, seine Sachen zu packen. Dann bringt ihr ihn zum Lagertor. Mittags fährt dort ein Versorgungsfahrzeug ab, das kann ihn nach Moskau bringen. Du willst doch nach Moskau?
Kapitel 2 - Unterwegs mit einem Glaubensritter
Eine Stunde später saß Borja mit seinen Sachen vor dem Lagertor. Von Warja hatte er sich nur im Vorbeigehen verabschieden können, wobei ihm im Hintergrund das zufriedene Grinsen des Rjasaners aufgefallen war. Wenigstens die Nummer ihres Mobiltelefons hatte sie ihm noch gegeben. Dann führte die Wache ihn ab.
Der Lkw kam gegen Mittag. Borja schaute stumpfen Blickes zu, wie ein paar Freiwillige die Lebensmittel für das Lager von dem Ural-Lkw abluden. Ihn ging das nichts mehr an, sollten sie doch sehen, wie sie zurechtkamen. „Bist Du das, den ich mitnehmen soll? Na, dann los!“ Ein kleiner, drahtiger Mann mit zerfurchtem Gesicht, eine Zigarette der Marke Sojus-Apollo im Mundwinkel, winkte ihm zu und kletterte ins Fahrerhaus. Borja raffte seinen Rucksack und stieg auf der Beifahrerseite zu.
Der Fünftonner, der seine besten Jahre vor dreißig Jahren in der Sowjetarmee gehabt haben musste, setzte sich geräuschvoll in Bewegung. Sie ließen Ostaschkow rechts liegen, bogen auf die M111 ein und fuhren Richtung Torschok. Borja versuchte, den Fahrer in ein Gespräch zu verwickeln. Der gab mit ein paar ablehnenden Grunzlauten zu verstehen, dass er daran kein Interesse habe. Also rollte sich Borja auf der Sitzbank zusammen und schlief ein.
Zwei Stunden später weckte ihn ein Rütteln. „Los, du musst hier raus“, knurrte der Lkw-Fahrer. Borja schaute überrascht aus dem Wagenfenster. „Aber wir sind doch noch gar nicht in Moskau“, begehrte er auf.
„Da fahre ich auch gar nicht hin, hat dir das keiner gesagt?“
„Nein, wo sind wir denn?“
Der Fahrer brummte etwas, das wohl Torschok heißen sollte. In einem Anfall von Kommunikationswut fügte er hinzu: „Ich fahre die M 10 nach Norden, nach Piter. Du willst ja wohl nach Moskau, musst dir also jemanden suchen, der nach Süden fährt.“
Borja nahm seinen Rucksack, winkte wortlos zum Abschied und stieg aus. Sein Blick fiel auf eine LukOil-Tankstelle. Dort würde er später versuchen, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Doch jetzt war er erst einmal hungrig. Er lenkte seine Schritte zu einer kleinen Imbissbude, die mit Schaschlik, heißen und kalten Speisen und Getränken warb. Borja nahm am Tresen zwei Piroschki , gefüllt mit Pilzen, zwei mit Sauerkraut und ein Bier der Baltika-Brauerei. Er bevorzugte die Nr. Sieben. “Pass auf, dass Du mir nicht die Acht andrehst”, warnte er die Bedienung. Alkoholfreies Bier - das fehlte jetzt noch!
Borja setzte sich an einen der Alu-Tische, vorsichtig, um nicht an die gebrechlichen Beinchen zu stoßen. Eine Kunststofftischdecke und ein kleines Sträußchen künstlicher Blumen zeugten von dem hilflosen Versuch, eine Hauch von Kultur in der Fernfahrerkneipe zu versprühen. Langsam kaute Borja seine Piroschki, die der Köchin ausgezeichnet gelungen waren, und spülte mit Bier nach. Mäßig interessiert ließ er seinen Blick durch das Etablissement schweifen.
Der Gast am Nachbartisch machte einen munteren Eindruck. Er mochte Mitte dreißig sein, war von drahtiger Statur, hatte lustige Augen und rötlich-blonde Locken. Er trug Jeans, ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt und eine abgeschabte Lederjacke. An seinem Hals baumelte ein kleines orthodoxes Kreuz ähnlich dem, das auch Borja besaß. Neben seinem Teller mit belegten Wurst- und Käsebroten stand eine kleine Wodka-Karaffe, aus der er sich gerade nachschenkte. „Los, Djewuschka , bring noch eine Okroschka!“ orderte er aufgeräumt. „Ich will auf dem Weg nach Moskau nicht vor Hunger sterben.“
Borja spitzte die Ohren. Verbindlich wandte er sich seinem Nachbarn zu: „Ich will auch nach Moskau, könnten Sie mich mitnehmen?“ Der Rotblonde bekam sehr wachsame Augen. Er musterte den Fragesteller eingehend und ließ sich erklären, welche Umstände Borja gerade in diese Imbissstube verschlagen hätten. Als er erfuhr, dass er wegen einer Sauferei aus dem Lager am See gefeuert worden war, wurde er zugänglicher. „Bratan , du scheinst in Ordnung zu sein, kannst mitkommen. Aber glaube nicht, dass Du mir das Auto unterwegs klauen kannst…“
Für den Bruchteil einer Sekunde waren seine Augen überhaupt nicht mehr fröhlich. Borja bemühte sich, seine Harmlosigkeit und Ehrlichkeit zu beteuern. In Gedanken machte er sich über den Burschen lustig, der sich tatsächlich um seinen alten Schiguli oder seinen ausgelutschten Importwagen aus vierter Hand sorgte. Denn um etwas anderes würde es sich bei dem Outfit wohl kaum handeln können.
Der kleine Parkplatz war staubig und glutheiß, aufgeheizt von der prallen Sonne des Augustnachmittags. Sascha – man hatte sich inzwischen bekannt gemacht – öffnete die Tür seines Wagens, während Borja verblüfft blinzelte. Es war ein aktueller Mercedes SL. Nahezu lautlos öffnete sich die Heckklappe. „Los, pack den Rucksack rein und dann – auf die Pferde!“