Tief in ihrem Innern meldete sich allerdings Widerspruch, der aus der realen Umwelt genährt wurde. Kaum eine Familie in ihrem Heimatdorf Krajewo war noch intakt. Die meisten Familien bestanden nur noch aus den Müttern mit ihren Kindern. Die Männer hatten sich mehrheitlich längst aus dem Staube gemacht, dem öden Landleben mit seinem zerfallenen Kolchos den Rücken gekehrt. Die daheim Gebliebenen beteten den Gott der saufenden Philosophen an, den Samogon.
In ihrer Familie lagen die Dinge freilich etwas anders. Warjas Mutter, im Malen durchaus talentiert, wie die Lehrerinnen in der Schule meinten, gab eines Tages ihrer künstlerischen Ader nach. Sie verschwand aus Krajewo. Auf einem zurückgelassenen Zettel stand lediglich: „Ich kann so nicht weiter leben, ich muss hier raus! Verzeiht mir.“ Kam das Gespräch zu Hause auf den Ausbruch seiner Tochter, brummte der Großvater abfällig, „eine rossige Stute hältst du nicht im Stall“. Es war nicht in der Ordnung der Dinge, wenn eine Frau sich aufmachte, um ihren eigenen Träumen zu folgen. Auch dann nicht, wenn der Gatte schon seit Jahren irgendwo in Sibirien auf einem Erdgasfeld dem „langen Rubel“ nachjagte und mit einer Kellnerin das Bett teilte. Immerhin schickte er ab und an Geld für Warjas Unterhalt. Was durchaus Seltenheitswert hatte, wie die angehende Philosophin wusste.
Warja erzählte lange und ausführlich, noch nie hatte sie sich so zu einem Jungen hingezogen und gleichzeitig so geborgen gefühlt. Borja genoss ihre Nähe, ihre angenehm duftende Wärme. Aber irgendwann nach dem achten oder zehnten Wodka im Kreise guter Freunde, die männliche Gespräche führten und sich gegenseitig ihre Großartigkeit bestätigten, hatten sich romantische Gefühle und Absichten verflüchtigt.
Schade eigentlich, dachte es in seinem Brummschädel, aber er hatte ja noch ein paar Tage vor sich, um diesen Fehler zu berichtigen. Träge kroch eine Fliege durch eine Bierlache. Wenn ihm nur der Rjasaner nicht in die Quere kam. Borja musterte den Dürren, der sich auf seinem Feldbett räkelte, misstrauisch durch die halb geschlossenen Augen. Der Ex-Kursant der Fallschirmjägerschule, gefeuert wegen mangelnder Muskelmasse und unüberwindbarer Höhenangst, war Warja seit Beginn des Sommerlagers am See wie ein Schatten gefolgt. Vergeblich zwar, aber das musste ja nicht unbedingt so bleiben. Besonders, nachdem er, Borja, sie am vergangenen Abend so enttäuscht hatte. Im Stillen gelobte er Besserung.
Langsam kamen aus den anderen Zelten die Mitglieder seiner 20-er-Gruppe zum Vorschein. Einige, wie er, mit grauem Gesicht. Die tiefen Ringen unter den Augen waren bei den Paaren der Gruppe aber wohl eher auf eine heftige Liebesnacht zurückzuführen. Die Lagerleitung mit ihrem feinen Gespür für die Stimmungen in den Führungsetagen hatte die Losung vom fröhlichen Vermehren ausgegeben, Verhütung stand nicht auf dem Bildungsprogramm. Statt dessen warnten Lektoren eindringlich vor einem Bevölkerungsschwund. Das, so predigten sie mit erhobenem Zeigefinger, sei eine Gefahr für Russlands Rolle als Großmacht des 21. Jahrhunderts.
Katja und Wassja hatten das offensichtlich bereits verinnerlicht. Hand in Hand tänzelten sie beschwingt heran, die unvermeidlichen Papierherzchen um den Hals, auf denen sie verkündeten: “Wir wollen mindestens zehn Kinder, denn wenn wir uns nicht vermehren, sterben wir aus wie die Mammuts.”
Seit sie an einer Massenhochzeit im Lager am See teilgenommen hatten, trugen sie den gemeinsamen Familiennamen Smirnow und lobten den Geist der russischen Familie. Borja, der Wassja etwas besser kannte, staunte über so viel Selbstverleugnung.
“Ach Borja, das mit der Verpflichtungserklärung musst Du nicht so ernst nehmen”, hatte Wassja ihm dann in einer ruhigen Stunde gestanden. “Katja würde das wohl gerne so halten, aber ich? Ich bin doch nicht verrückt! Aber unser Kinderwunsch kommt hier gut an, wir sind beide schon zu einem Seminar für künftige Kommissare eingeladen.”
Langsam schlenderte die blonde Nadja aus St. Petersburg heran. Meeresbiologin wolle sie werden, behauptete sie. Wieder trug sie, wie schon an den anderen Tagen, ein weißes, ärmelloses T-Shirt mit der Aufschrift: “Dima, ich will ein Kind von Dir!” Hungrige Blicke ruhten auf ihrem prächtig ausgeformten Busen.
“Hallo, Nadja, wie viele von diesen Shirts hast Du denn im Koffer? Oder hast Du nur eins und wäschst es jede Nacht?” Borjas Versuch, sich über die Blonde lustig zu machen, verfing nicht.
“Mach Dir keine Sorgen, ich habe Reserven, die reichen bis zur Abschlussveranstaltung”, versicherte die Petersburgerin mit treuherzigem Augenaufschlag.
“Aber was machst Du, wenn der Präsident Dich damit sieht und Dich beim Wort nimmt?”
“Was geht das Dich an?”
“Nun ja, wenn Du hier so öffentlich Angebote machst, wird man ja mal fragen dürfen…”
“Mach Dir keine Sorgen, Saufkopp, ich werde dann schon das Richtige tun.”
“Du bist schon ein verrücktes Huhn.”
“Ach, halt die Klappe.”
Borja schüttelte sich. Wieder so ein verzweifelter Versuch, um höheren Orts angenehm aufzufallen. Da konnte er nur müde lächeln. Das dritte Mal schon hatte er einen Platz im Zeltlager ergattert, von dem man sich im weiten Lande Wunderdinge erzählte. Wer sich anstellig und loyal zeige, so hieß es, könne in den Hierarchien aufsteigen, gar ein warmes Plätzchen in Moskau zugeteilt bekommen, wenn man einem der Funktionäre auffiel. Das war Borja nie gelungen. Vielleicht war er zu wenig patriotisch gewesen? Zu wenig eifrig ? Oder doch zu widerborstig? Denn eines hatte er inzwischen gelernt – Widerspruch führte schnell dazu, dass man in die hinteren Reihen des Kadernachwuchses abgeschoben wurde.
Warja hatte inzwischen schon Kascha gekocht und Tee zubereitet, Brot, Wurst, Eier, Gurken und Käse lagen auf dem Tisch. Angewidert wandte sich Borja ab. Sein Magen verweigerte die Aufnahme fester Nahrung. Mit unsicherer Hand suchte er unter dem Tisch zwischen den leeren Flaschen nach Überbleibseln des gestrigen Abends. Warja, die mitfühlende dörfliche Seele, der nichts Menschliches fremd war, reichte ihm mit nachdrücklicher Geste ein Gurkenglas. „Trink das Gurkenwasser, dann wird´s dir besser gehen!“ Für einen Moment glaubte er, die Stimme seiner Mutter zu vernehmen. Gehorsam nahm er ein paar Schlucke. Das half tatsächlich etwas.
Von draußen drang eine immer lauter werdende Stimme an sein Ohr, die er zunächst nicht zuordnen konnte. Dann begriff er: Es war das Organ von Gruppenleiter Schischkow, wegen seines leicht tatarischen Aussehens „Mongole“ genannt. So muss Dschingis Khan geklungen haben, wenn er den Angriffsbefehl gegeben hat, ging es Borja durch den Kopf. Erst mit Verzögerung begriff er: der „Mongole“ hatte ihn gemeint. „Wolkow, raustreten. Sofort in der Lagerleitung melden“, belferte Schischkow, der sich in der Rolle des Befehlshabers gefiel. Wenn es auch nur in einer Zwanzigergruppe war, vorläufig wenigstens. Doch Schischkow wollte aufsteigen und wusste auch schon wie. Entschlossenheit, so glaubte er, sei besonders gefragt. Schnelle Entschlüsse ebenso, sie bewiesen der Umgebung, dass hier ein Mann weiß, was er will. „Ein zügiger Entschluss, auch wenn er falsch ist, ist immer besser als ein richtiger, der langsam gefasst wird“, war seine Maxime. Wobei er übersah, dass das, was er für einen „Beschluss“ hielt, lediglich eine flinke Reaktion auf Vorgaben von oben war.
Borja rollte aus dem Bett, hängte sich sein Badge mit der elektronischen Kennung um und setzte seinen geschundenen Leib, der von einer dröhnenden Hohlkugel gekrönt war, widerwillig in Bewegung. Mitfühlend blickte Warja ihm hinterher. Wer so früh zum Lagerchef gerufen wurde, der hatte Übles zu gewärtigen.
Diese Überlegung ergriff langsam auch von Borja Besitz. Zögerlich schlich er die „Allee der Verräter“ entlang. An diesem Morgen hatte er nur wenig Aufmerksamkeit für die Karikaturen übrig, die er sonst eigentlich ganz witzig fand. Eifrige Agitatoren hatten Porträts von Oppositionspolitikern in die Fotos aufreizender Nutten kopiert. Und damit die tumbe Masse es auch richtig versteht, prangte darüber die Schlagzeile „Sie machen es für Geld“. Von einem ehemaligen Schachweltmeister