„Wer will schon geächtet und verfolgt irgendwo im Wald leben, wenn er auch in einem Dorf unter einem ordentlichen Dach leben kann?“
Als Stadt im hintersten nördlichen Winkel des Königreichs war es ziemlich unwahrscheinlich, dass Haffkef und seine Umgebung mit Krieg zu tun hatten. Und selten zog es einmal einen der jungen Männer in eine der Städte im Süden, um sich dort als Soldat zu verdingen. Und wenn es einer tat, kam er nach seinem Dienst in der Armee sicher nicht in den kalten langweiligen Norden zurück.
Ziemlich genau ein Jahr war seit dem schrecklichen Erdbeben vergangen. Erst im Herbst waren die Aufräum- und Aufbauarbeiten so weit gediehen, dass ein geregelter Ablauf im Dorf wieder möglich war. Das bedeutete, dass erst seit dieser Zeit die kleineren Kinder wieder Schule hatten und die größeren Jungs ab vierzehn Jahren ihre Ausbildung an den Waffen bekamen.
Die kleineren Kinder, zu denen auch Hanreks zwölfjähriger Bruder Stonek gehörte, wurden von Zacharia dem Dorfgelehrten unterrichtet. Er lehrte sie neben Lesen, Schreiben und Rechnen in allen Fragen der Bräuche und der Kultur des Königreichs. Er beantwortete ihnen gerne so Fragen wie nach dem Alter des Königs oder wieso alle Dörfer auf „el“ enden und die Städte mit „ef“.
„In unserem Königreich enden fast alle Dorfnamen auf „el“. Damit erkennt man, ob von einem Dorf oder einer Stadt gesprochen wird. Fast alle Städte enden auf „ef“. Lediglich die Städte des Königs enden auf „om“. Wenn also unsere Stadt eine Stadt des Königs wäre, würde sie nicht Haffkef sondern „Haffkom“ heißen. Aber dafür ist unsere Stadt zu klein und unbedeutend.“
Jedes Mal, wenn Hanrek Zacharia davon reden hörte, dass die Stadt Haffkef klein sein sollte, hielt er ihn für einen Aufschneider, weil er bei jedem Besuch in der Stadt mit offenem Mund die großen Häuser, die Gärten, den schönen Brunnen und die hohe Stadtmauer bewunderte. Der Lärm auf den Straßen mit den vielen Pferdekarren und Menschen erschreckte ihn jedes Mal. Er war sich sicher, dass er sich nie daran gewöhnen würde.
Zacharia fuhr mit seiner Erklärung fort.
„Insgesamt gibt es dreizehn Städte des Königs. Die Wichtigste ist aber die, in der der König selbst lebt und regiert. Das ist Kiroloom. Ihr Name endet zur Ehre des Königs auf „oom“. Und dementsprechend enden die Namen der Dörfer in der Nähe einer Stadt des Königs mit „ol“ und Dörfer in der Nähe von Kiroloom mit „ool“.“
Spartak hieß sie, sich für die nächste Übung aufzustellen. Hanrek mochte den Stockkampf und das Bogenschießen. Dagegen mochte er den Schwertkampf überhaupt nicht. Obwohl sie bisher nur mit Holzschwertern geübt hatten, bereitete ihm der Gedanke an abgeschlagene Arme und Beine Übelkeit.
Hanreks Gedanken schweiften zum Bogenschießen ab. Seine Gefühle für das Bogenschießen waren zwiespältig. Anders als der Schwert- und Stockkampf, den sie in einem geschlossenen Raum übten, fand das Bogenschießen am Dorfrand statt. Da es im Freien war, konnte er ohne Probleme die Gabe einsetzen. Er konnte daher das Ziel nicht nur sehen sondern auch fühlen. Irgendwie war es dadurch besonders einfach zu treffen, was ihm jedes Mal ein anerkennendes Nicken von Spartak einbrachte. Da es aber draußen war, fand sich jedes Mal nach einer gewissen Zeit eine immer größer werdende Zuschauermenge ein. Unter anderem versammelten sich die gleichaltrigen Mädchen, die tratschten und jeden Schuss der Jungs kommentierten. Darunter war auch Miria die Nachbarstochter.
Miria war ungefähr einen Kopf kleiner als Hanrek, sie hatte zierliche Glieder. Ihre rotbraunen gelockten Haare, trug sie meist offen. Einen ziemlichen Kontrast zu ihren Haaren bildeten ihre grünen Augen in ihrem braun gebrannten Gesicht. Ein keckes Grübchen verlieh ihrem Gesicht immer den Ausdruck, als ob sie gleich anfangen wollte zu lachen, selbst wenn ihr gar nicht zum Lachen zumute war.
Seit einiger Zeit konnte Hanrek sich immer dann, wenn er sie sah oder auch nur an sie dachte, nicht mehr konzentrieren. Er stammelte, wenn sie sich trafen und sie ihm eine Frage stellte. Er fiel über seine eigenen Füße, wenn sie nur zufällig einmal in seine Richtung schaute. Und natürlich traf er keinen Schuss mehr beim Bogenschießen, sobald er sie unter den Zuschauern bemerkte, was ihm jedes Mal prompt einen tadelnden Blick von Spartak einbrachte.
„Autsch.“
Da war es passiert. Er war nur durch den Gedanken an Miria unkonzentriert gewesen und sein Gegenüber hatte ihm den Stab schmerzhaft aus der Hand geschlagen, sodass er mit lautem Klappern zu Boden fiel.
„Hanrek“, tadelte Spartak ihn aufgebracht, „Das ist für einen Drachentöter nicht würdig. Konzentriere dich gefälligst auf die Übung, die wir machen. Wenn du weiter so träumst, darfst du später den Übungsraum alleine aufräumen.“
Um ihn bei der Ehre zu packen, hatte Spartak absichtlich seinen Spitznamen „Hanrek, der Drachentöter“ verwendet.
„Hanrek, der Drachentöter“ nachdem ihn seine Eltern benannt hatten, war der Held aus einem Märchen. Jeder kannte dieses Märchen und die Geschichte, wie Hanrek den letzten Drachen getötet hatte. Vielleicht hatte es diesen Hanrek ja wirklich gegeben, denn zumindest Drachen gab es keine mehr. Hanrek hatte in seinem fünfzehnjährigen Leben wahrscheinlich schon alle Vor- und Nachteile kennengelernt, die es hatte, wenn man nach einem Helden benannt war. Selbstverständlich war immer nur einer in Frage gekommen, wenn sie als kleine Kinder gespielt hatten und die beliebte Rolle des unschlagbaren Helden zu vergeben war. Leider musste sich ein Held auch immer heldenhaft und vor allem ehren- und tugendhaft verhalten. Dieser Teil hatte ihm meist weniger gefallen, besonders da diese Eigenschaft eines Helden immer dann gefragt war, wenn es ums Teilen einer Leckerei oder die Verrichtung einer ungeliebten Arbeit ging.
Ein Teil des Märchens war ein Gedicht. Mehrere Strophen des Gedichts wurden als Abzählreime oder für Hüpfspiele verwendet. „Erde, Feuer, Wasser, Stein …“ Diese hatte er immer gehasst, weil sie allzu oft als das Hanrek-Hüpfspiel oder als der Hanrek-Reim bezeichnet wurden. Da er aber oft mit seinem Namen und der Bezeichnung Drachentöter aufgezogen worden war, hatte er gelernt, sich dafür ein dickes Fell zuzulegen und statt sich darüber zu ärgern, den Spaß mit zu machen. So reagierte er auch jetzt auf die Provokation von Spartak mit einer Verbeugung vor seinem Übungspartner und gratulierte ihm lächelnd zu seinem Sieg als Drache über den unbesiegbaren Drachentöter. Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite. Als er seinen Stab vom Boden aufhob, hörte er zwar Spartak etwas von „frecher Lümmel“ in seinen Bart murmeln, aber sobald er wieder in Position stand, gingen alle wieder gut gelaunt an die Übungen.
Als die Übungsstunde zu Ende war, ermahnte sie Spartak.
„Euch ist klar, dass ihr wegen des Erdbebens im letzten Jahr ein halbes Jahr hinter dem her hinkt, was ihr eigentlich können müsst. Macht deswegen die Übungen, die ich euch gezeigt habe, so oft ihr könnt. Ihr könnt sie auch alleine machen. Wichtig ist nur, dass ihr die Bewegungen oft macht.“
Hanrek nahm sich das zu Herzen und übte so oft er konnte. Immer dann, wenn er seine Pflichten im Haus, Stall und auf den Feldern erfüllt hatte, nahm er seinen Stab und ging zum Üben auf eine nahe gelegene aber einsame Lichtung im Wald. Im Unterschied zu den gemeinsamen Übungsstunden hatte er bei seinen eigenen Übungseinheiten den Waldboden unter sich und konnte dadurch die Gabe einsetzen. Der Stab, den er dadurch erspüren konnte, wurde damit fast zu einem weiteren Körperteil. Mühelos gingen ihm deshalb die Bewegungen in Fleisch und Blut über. Das Gefühl für Bewegung und Stab ging ihm nach einer Weile auch in den gemeinsamen Übungsstunden auf Stein nicht verloren, sodass er schnell seinen Freunden voraus war. Da er schneller lernte als die anderen, zeigte Spartak ihm früher als den anderen neue schwerere Übungen. Auch diese lernte er sehr schnell.
Immer größer wurde der Abstand zu seinen Freunden und immer schwerere Aufgaben forderte Hanrek von Spartak, sodass dieser am Ende einer Übungsstunde im Sommer Hanrek anerkennend anlächelte und sagte.
„So Hanrek. Ich kann dir jetzt nichts Neues mehr beibringen. Du kannst alles, was ich kann und mehr. Und ich halte mich für einen guten Stockkämpfer.“