›Ach Gott!‹ denkt sie. ›Es ist unrecht von mir, vor ihm Angst zu haben. Er ist ja ganz hilflos – wenn ich ihn hier stehenließe, er fände vielleicht gar nicht mehr nach Haus!‹
Sie denkt an die vielen Seen, die hier rundum liegen, an all das Wasser, in das der Ahnungslose geraten kann. Sie schaudert, und rasch lenkt sie den Blick zum Himmel, der voll ausgestirnt ist.
Plötzlich zuckt sie zusammen, sie bleibt stehen, schweigt erst atemlos und ruft dann: »War das aber eine herrliche Sternschnuppe – haben Sie die gesehen, Herr Siebenhaar? Ach Gott, verzeihen Sie doch …«
»Hast du dir denn auch etwas gewünscht bei der Sternschnuppe, Traute?«
»Aber klar! Sie fuhr doch so lange über den Himmel, da konnte man sich alles wünschen, was das Herz begehrt!«
»Komm, nimm wieder meine Hand, Traute! – Ich frage mich«, fragte Herr Siebenhaar fast fröhlich im Weitergehen, »was sich so ein junges Mädchen wie du wohl von Herzen wünscht?«
»Das ist wohl nicht schwer zu raten, Herr Siebenhaar!«
»Nein? Was ist es denn? Schöne Kleider? Schmuck?
Nein? Einen recht guten Freund? Es war mir doch so, als hörte ich heute nach dem Essen jemanden ganz leise die Treppe hinunterschleichen?«
»Da bin ich aber bestimmt zu keinem guten Freund gegangen! Außerdem, wenn ich schon einen hätte, brauchte ich mir ja keinen mehr zu wünschen, Herr Siebenhaar!«
»Du hast dir also doch einen gewünscht, Traute?«
»Ach! – Nun, wenn es Sie wirklich interessiert: Ich habe mir einen netten, anständigen Mann gewünscht und eine gute Ehe mit vielen Kindern und dann – aber nein, das kann ich nun doch nicht erzählen, Herr Siebenhaar!«
»Mir kannst du alles sagen, Kind!«
»Nein, das geht nicht. Es geht auch nur mich allein an.«
»Sag es schon, Traute, bitte! Denk mal, ich habe mit keinem Menschen rechten Umgang mehr. Es wäre wirklich eine Freude für mich, wenn ich wieder mal ein Geheimnis mit einem Menschen teilte!«
»Also, ich habe mir gewünscht, daß … Aber nein, ich kann es doch nicht sagen!«
Und sie brach in ein verlegenes Lachen aus.
»Nun sag schon! Mach mir einmal die kleine Freude!«
»Also, ich habe mir gewünscht, daß meine Knöchel ein ganz klein wenig schlanker sind!«
»Deine Knöchel sind ganz bestimmt nicht zu dick! So was erzählen dir bloß deine Freundinnen. Glaube denen nur nicht zuviel!«
»Aber Sie können das doch gar nicht wissen, Herr Siebenhaar!« rief sie verblüfft aus. »Es ist wirklich so! Manchmal sehen meine Knöchel direkt plump aus!«
»Das hast du dir bloß dreinreden lassen. So etwas habe ich im Gefühl: Du hast keine plumpen Fesseln. Dann würdest du einen ganz andern Gang haben. Wenn sie plump aussehen, liegt es oft nur am Schuhwerk, oder wie die Strümpfe gemustert sind …«
Es beruhigte sie sehr, daß er nicht verlangte, ihre Beine zu betasten. Jeder zweite junge Mann hätte solch ein Verlangen geäußert. Sie ging jetzt sicherer neben ihm. Sie kamen an der Sandgrube vorüber und gingen nun bergab zur Kleinen Brücke hinunter. Sie konnte die Haselwildnis im Hohlweg wie ein riesiges, geducktes Tier in all dem Nachtdunkel liegen sehen …
»Also einen guten Mann und eine glückliche Ehe wünschst du dir«, fing er auf einmal wieder an. »Das ist viel und wenig gewünscht. Es fragt sich eben, was du unter Glück verstehst, Traute?«
»Ach, Glück – jeder weiß es doch, wenn er glücklich ist.«
»Ob du lieber glücklich machst oder dich lieber glücklich machen läßt?«
»Ich bin am glücklichsten, wenn alle andern zufrieden sind«, sagte sie nach einigem Nachdenken.
»Das habe ich auch nicht anders erwartet«, nickte er. »Und also hast du wenig gewünscht und kannst hoffen, daß deine Wünsche sich erfüllen.«
»Hoffen und Harren hält manchen zum Narren, Herr Siebenhaar!«
»Dich nicht, Traute! Dich nicht!«
Herr Siebenhaar sprach immer weiter.
»Aber ich muß nicht so bleiben, Traute«, sagte er jetzt. »Ich könnte noch wieder werden wie früher – ich fühle, es ist noch nicht zu spät. Es müßte sich nur eine finden, die mir ernstlich helfen wollte, die ein Interesse an mir nähme … Zu Anfang brauchte sie mich noch gar nicht so gern zu haben – das würde schon von selbst kommen, wenn ich mich zurückverwandelte, ich meine, wenn ich wieder ein fröhlicher Mensch würde. Das verstehst du doch auch, Traute?«
»Ja«, sagte sie ängstlich.
Und: »Wollen wir jetzt nicht lieber zurückgehen, Herr Siebenhaar? Es ist schon viel länger geworden als eine Viertelstunde.«
»Einen Augenblick noch, Traute. – Du denkst vielleicht, ich könnte einem solchen Mädchen, das sich meiner erbarmte, nichts bieten? Aber das könnte ich vielleicht doch. Ich rede nicht von Geld und Reisen und schönen Kleidern und Autos – das alles wäre für sie selbstverständlich, denn alles, was mir gehört, wäre dann ihr Eigentum, und ich bin ein sehr wohlhabender Mann. Ich rede auch nicht davon, daß dieses Mädchen dann die Macht hätte, allen, die um sie sind, zu helfen, vielleicht eine Mutter glücklich zu machen, der es nicht so gut geht, wie sie es eigentlich verdiente. Nein, von all diesen Dingen rede ich nicht, denn ich will das Mädchen ja nicht kaufen, dann wäre es ja auch nur eine bezahlte Hilfe …«
Herr Siebenhaar schwieg einen Augenblick. Das Mädchen hatte zuerst an seinem Arm gezogen, als wolle es durchaus fort. Aber nun stand es still neben ihm und lauschte wie gebannt seinen Worten. Noch nie, schien es Traute, hatte ein Mann so freundlich und freimütig mit ihr gesprochen. Dieser Mann wollte sie nicht überlisten und bestehlen …
Er strich einmal rasch über ihre Hand.
»Komm, Traute«, sagte er jetzt. »Wir wollen nun nach Haus gehen. Hoffentlich habe ich dich nicht zu sehr erschreckt. Nein, du sollst mir gar nichts antworten, ich will dich doch nicht überrumpeln. Du sollst dir alles in Ruhe überlegen. Du bist ja auch noch sehr jung, ich glaube erst siebzehn, wir müßten auch erst mit deinem Vater oder mit deiner Mutter sprechen, ob sie es für richtig halten … Mit wem möchtest du lieber, daß ich spräche – mit deinem Vater oder mit deiner Mutter?«
»Mit Mutti …«
»Nun, siehst du, das habe ich mir gleich gedacht: Du bist die Tochter deiner Mutter! Ich denke, wir lassen sie am besten hierherkommen, wir schicken ihr den Wagen …«
»Ich möchte ihr aber lieber erst schreiben, sonst erschrickt sie.«
»Natürlichl Alles, wie du willst! Von nun an alles, was du willst. Schlaf schön, Traute – und vielen, vielen Dank für alles! – Und denke daran, du hast mir noch nichts versprochen, du bist noch ganz frei …«
10
Der Preußische Adler hatte für den täglichen Gebrauch zwei Gaststuben: das ›Lederzimmer‹, dessen Sofas und Stühle mit Leder bezogen waren und in dem meist nur die Stadtfremden, die Honoratioren, und, wenn es ganz leer war, gern die Liebespaare saßen. Und dann die gewöhnliche Gaststube mit Holzstühlen und Holztischen und der Theke. Durch sie lief der Tagesverkehr, aber auch die einfachen Bürger spielten dort ihren Skat, ihnen war das Lederzimmer zu fein – sie nannten es nur ›das kühle Grab‹.
So verzweifelt und voll zorniger Scham Ilse Voß auch war, so überlegte sie es sich auf ihrem Wege zum Preußischen Adler doch sehr genau, in welches Zimmer sie sich setzen müsse, um ihr Ziel, den Sohn des Hotels, Fritz Bleesern, zu sprechen, auch zu erreichen. Nach längerem Hin und Her entschied sie sich für die Gaststube mit der Theke. Es war ein gewöhnlicher Wochentag. Fritz würde selbst die Gäste bedienen,