Die Übersetzungen von Ernst Weiß. Manfred Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manfred Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742705754
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hohen Erwartungen seiner Mutter und seiner Schwester, die er grausam getäuscht hatte, zu verwirklichen. Er sah die große Linde wieder, unter der er sich verlobt hatte, und den Tag, an dem er seine Verlobung gelöst – und nur seine Mutter hatte es verstanden, ihn zu trösten. Er glaubte seine alte Pflegerin zu umarmen und seine erste Geige im Arm zu haben. Dies alles sah er in einer lichterfüllten, traurigen, sanften Ferne wieder, es war eine Ferne wie die, auf welche die Fenster nach dem Felde blickten, ohne sie zu sehen.

      Er sah dies alles wieder, und trotzdem waren noch nicht zwei Sekunden vergangen, seitdem der Arzt sich über sein Herz gebeugt und gesagt hatte: »Es ist das Ende!«

      Er richtete sich auf und sagte:

      »Es ist zu Ende!«

      Alexis, seine Mutter und Jean Galéas und der Herzog von Parma, der eben gekommen war, knieten nieder. Die Dienstboten weinten im Vorraum hinter der offenen Tür.

      [Oktober 1894]

      Gedankenvolle Kindheit der Violante

      »Habt wenig Umgang mit jungen Leuten und mit Personen aus der großen Welt ... sehnt euch nicht danach, vor den Großen dieser Welt zu erscheinen.«

      Nachfolge Christi 1, 8. V.

      Die Gräfin von Steyer war eine vornehme und zärtliche Seele; ihr ganzes Wesen war durchdrungen von einer unbeschreiblich bezaubernden Anmut. Der Graf, ihr Herr Gemahl, war geistig außerordentlich lebhaft, und die Züge seines Gesichts musste man in ihrer Regelmäßigkeit bewundern. Aber der erstbeste Grenadier von der Straße verfügte über mehr Zartgefühl und weniger Banalität. Diese Eltern erzogen nun fern von der Welt auf ihrem bäuerlichen Gute von Steyer ihre Tochter Violante, die, schön und voller Leben wie ihr Vater, warmherzig und geheimnisvoll berückend wie ihre Mutter, alle Eigenschaften ihrer Eltern in der vollendeten Harmonie ihres Wesens zu vereinen schien. Aber die wechselnden Wünsche ihres Herzens und ihrer Gedankenwelt begegneten in ihrer Seele keiner gleichstarken Willenskraft, und diese allein hätte sie sicher leiten können, ohne sie zu hemmen. Eine solche Willenskraft hätte verhindert, dass diese Regungen des Herzens und des Kopfes aus ihr nur ein charmantes und zerbrechliches Spielzeug machten. Dieser Mangel machte der Mutter Violantes viel Unruhe, die mit der Zeit hätte gute Früchte tragen können, wenn nicht die Gräfin durch einen Jagdunfall zugleich mit ihrem Gatten zugrunde gegangen wäre und Violante im Alter von fünfzehn Jahren als Waise zurückgelassen hätte. Nun lebte Violante fast allein, unter der zwar wachsamen, aber doch recht schwerfälligen Aufsicht des alten Augustin, der ihr Hofmeister und zugleich der Intendant des Schlosses von Steyer war. Violante, der die Freunde fehlten, machte aus ihren Träumen wundersame Gefährten, denen sie dann ihr ganzes Leben treu zu bleiben versprach. Sie führte sie denn auch spazieren in den Alleen des Parkes, ließ sie durch die Landschaft streifen und hieß sie sich mit den Ellbogen auf die Terrasse stützen, die als Abschluss des Gutes auf das Meer hinausging. Sie wurde von diesen Träumen wie über sich selbst herausgehoben, von ihnen in den geheimen Kreis eingeweiht, und so fühlte sie das Sichtbare in seiner ganzen Fülle und ahnte ein wenig das, was die irdischen Augen nicht sehen. Ihr Frohsinn kannte keine Grenzen, von Zeit zu Zeit schwebte Traurigkeit über sie hin und milderte die helle Freude in süße Wehmut.

      Sinnenwelt

      »Stützet euch ja nicht auf ein Rohr, das der Wind bewegt, noch auch bauet darauf; denn jegliches Fleisch ist wie die Pflanze, und sein Ruhm vergeht wie das Kraut der Felder.«

      Nachfolge Christi

      Außer Augustin und einigen Dorfkindern sah Violante keine Menschenseele. Nur eine jüngere Schwester ihrer Mutter, die in Jolianges (das Schloss war einige Stunden weit entfernt) wohnte, erschien manchmal, um Violante zu besuchen. Bei solcher Gelegenheit kam eines Tages einer ihrer Freunde mit. Er nannte sich Honoré und war sechzehn Jahre alt. Er hatte nicht das Glück, Violante zu gefallen, aber er kam wieder. Während er mit ihr durch eine Allee des Parkes promenierte, brachte er ihr höchst unanständige Dinge bei, über die sie noch sehr im Unklaren gewesen war. Was sie dabei empfand, war sehr gut und angenehm, doch schämte sie sich dessen sofort. Später dann, als die Sonne schon untergegangen war und sie einen weiten Weg hinter sich hatten, nahmen sie auf einer Bank Platz, zweifelsohne nur, um den Widerschein des rosenroten Himmels im gesänftigten Meer zu betrachten. Honoré näherte sich Violante, und damit sie ja nicht unter der Kälte litte, knöpfte er den Umhang auf ihrem Halse mit einer raffinierten Langsamkeit fest und schlug ihr vor, mit seiner Hilfe die Theorien praktisch zu erproben, über die er ihr im Park Unterricht erteilt hatte. Er wollte ganz leise mit ihr sprechen und brachte seine Lippen dem Ohr des Mädchens, das sich nicht zurückzog, immer näher. Violante hörte ein Geräusch im Gebüsch.

      »Aber es ist nichts«, sagte zärtlich Honoré.

      »Meine Tante ist es«, sagte Violante; es war der Wind. Aber Violante hatte sich schon erhoben. Sehr im rechten Augenblick durch den Wind ernüchtert, wollte sie sich durchaus nicht wieder setzen und sagte Honoré trotz seiner Bitten Adieu.

      Sie hatte Gewissensbisse, eine Nervenkrise, konnte zwei Tage lang schwer einschlafen. Ihre Erinnerung war ein glühendes Kopfkissen, das sie unablässig hin und her wendete. Zwei Tage nachher wollte Honoré sie sehen; sie ließ antworten, sie sei spazieren gegangen. Honoré glaubte es nicht und wagte nicht wiederzukommen. Im nächsten Sommer dachte sie mit Zärtlichkeit an Honoré zurück, freilich auch mit Betrübnis, denn sie wusste, dass er als Matrose zu Schiff fortgereist war. Wenn die Sonne im Meer untergegangen war, saß sie auf der Bank, zu der er sie damals (es war gerade ein Jahr) hingeführt hatte, und gab sich alle Mühe, die suchenden Lippen Honorés in die Gegenwart zurückzurufen, seine grauen Augen zwischen den halb gesenkten Lidern, seine wie Strahlen umherirrenden Augen, die plötzlich über sie ein heißes, helles, lebensvolles Licht ausschütteten. Und in den milden Nächten, in den weiten, von aller Welt abgeschlossenen Nächten, wenn die Gewissheit, allein zu sein, ihr Verlangen ins Unermessliche steigerte – da hörte sie Honorés Stimme, die ihr verbotene Dinge ins Ohr flüsterte. Er stand da, der Mittelpunkt des Zauberkreises, quälend und lockend gleich einer teuflischen Versuchung.

      Eines Abends sagte sie seufzend beim Diner dem Intendanten, der ihr gegenübersaß:

      »Ich bin sehr traurig, mein Augustin. – Niemand hat mich lieb« – fügte sie hinzu.

      »Und doch«, erwiderte Augustin, »sind es keine acht Tage – es war, als ich in Jolianges die Bibliothek in Ordnung brachte –, da hörte ich von Ihnen sagen: ›Ach, ist die schön!‹«

      »Und wer war es?« fragte Violante sehr betrübt. Ein zartes Lächeln kräuselte unmerkbar die Winkel ihrer Lippen, als versuchte man einen Vorhang zu lüften, um gutes Sonnenlicht hineinzulassen.

      »Der junge Mann vom letzten Jahr, Herr Honoré.«

      »Ich dachte, er sei auf See«, sagte Violante.

      »Er ist zurück«, sagte Augustin.

      Violante erhob sich sofort und ging mit sehr unsicheren Schritten in ihr Zimmer, um Honoré zu schreiben, er möge sie besuchen kommen. In dem Augenblick, als sie die Feder ergriff, hatte sie ein Gefühl von Glück, eine Empfindung von ungeahnter Macht. Sie fühlte tief im Innern, dass sie ihr Leben doch ein wenig nach ihrer Laune und ihrem Sinnenglück sich gestalten könne; dass sie dem Räderwerk ihrer beider Geschicke, das sie mechanisch fern voneinander einzuschließen schien, allem zum Trotz einen kleinen Stoß geben könne, dass er nachts erscheinen würde auf der Terrasse, ganz anders als in der schrecklichen Ekstase ihres nie gestillten Wunschtraumes. Dass seine unerwiderten Zärtlichkeiten (ihr ewiger innerer Roman) und die Wirklichkeit Straßen hatten, die sich trafen und auf denen man sich zum Unmöglichen emporschwingen konnte, und dass sie das Unmögliche möglich machen würde durch ihren Glauben.

      Am nächsten Tage empfing sie eine Antwort, und sie las sie voll Zittern auf der Bank, wo er den Arm um sie gelegt hatte:

      »Gnädiges Fräulein! Ich empfing Ihren Brief eine Stunde vor der Abfahrt meines Schiffes. Wir hatten Landurlaub nur auf acht Tage, und ich komme erst in vier Jahren zurück. Wollen Sie, bitte, nicht ganz vergessen