seit Jahrzehnten kein Mensch mehr verirrt. << Duncan staunte noch immer und folgte den Ausführungen Piper’s kaum. Er erblickte im Durcheinander einen uralten Schreibtisch, hinter dem ein unheimlich dürrer, fast kahlköpfiger Mann saß, dessen markantestes Merkmal seine Hakennase war, die wie der Schnabel eines Greifvogels aus seinem Gesicht ragte. Neben ihm stand ein Metallgestänge, an dem ein Infusionsbeutel hing, in dem eine rotbraune Flüssigkeit zu sehen war. Von dem Beutel führte ein Plastikschlauch zu einer Kanüle, die am linken Unterarm des Mannes lag. Die Haut des Mannes war welk und wirkte wie ausgetrocknet. Blaue Venen zeichneten sich überall darauf ab. Im Grunde sah er wie tot aus, nur schien diese Nachricht noch nicht sein Gehirn erreicht zu haben. Der Mann lächelte und offenbarte dabei für sein Alter ungewöhnlich weiße und perfekte Zähne. >>Das ist Piotr Vulczkinski, der Archivar, << flüsterte Piper, doch der Mann schien jedes Wort verstanden zu haben. Er nickte, und als er zu sprechen begann, offenbarte er einen unverkennbaren russischen Akzent. >>Vulczkinski, jawohl. Und bitte keine Scherze mit meinem Namen machen. << Duncan deutet auf die Infusion und erwiderte: >>Ich hoffe, sie sind nicht ernsthaft erkrankt. Hier unten kann man sich sicher schnell den Tot holen, bei all den Bakterien und Keimen. << Eisige Stille legte sich über die Anwesenden. Der Archivar machte ein Gesicht, als hätte Duncan einen für ihn unverständlichen Witz erzählt, ohne dabei zu bedenken, dass sein Gegenüber ein Mensch war, der absolut keinen Humor hatte. >>Letzteres sollte für mich kein Problem darstellen, << erwiderte Vulczkinski mit krächzender Stimme. Duncan verstand nicht und wollte um eine Erklärung bitten, doch Piper zog ihn am Arm zu sich und sagte in ernstem Ton: >>Lass den Unsinn, okay ?! Piotr ist ein Vampir! Das da ist eine Bluttransfusion, auch wenn es sich bei der Flüssigkeit fast nur um Tomatensaft handelt. << Duncan war entsetzt und fasziniert zugleich. >>Ein Vampir, << stammelte er, >>und eine Tomatensaftinfusion?! << >>Auch ein Vampir hat das Recht, als Vegetarier zu leben, wenn er das wünscht, << antwortete Piper gereizt, wandte sich dem Archivar zu und lächelte eines ihrer strahlendsten Lächeln. >>Verzeihen sie, Mister Vulczkinski, er ist ein Neuling und noch feucht hinter den Ohren. Ich hoffe, es geht ihrer Frau gut? << >>Ich denke schon, auch wenn sie sich von ihrem letzten allergischen Anfall noch nicht gut erholt hat und noch etwas wackelig auf den Beinen ist. << Duncan konnte seine Neugier nicht im Zaum halten. >>Wogegen ist sie allergisch? << >>Gegen Holz jedweder Art, << antwortete der Archivar automatisch, >> was vor allem bei der Wahl eines neuen Bettes sehr problematisch werden kann. << Duncan gelang es, nichts darauf zu erwidern. Er wollte den Raum lebend verlassen und nicht an plötzlich auftretender Blutarmut sterben. >>Wollen sie das Portal benutzen? ,<< fragte der Vampir. Duncan nickte, woraufhin Vulczkinski sagte: >>Wundern sie sich nicht, aber es ändert gelegentlich die Übergänge. Man kommt dann nicht unbedingt aus einem Portal, wenn man drüben ist. << >>Das bedeutet
was genau?, < Der Alte zuckte mit den Schultern. >>Ist unterschiedlich. Manchmal erscheint man nur einige Meter über dem Boden, aber es hat auch schon Fälle gegeben, in denen die betreffende Person in einem Fluss erschien und zuerst an Land schwimmen musste. << >>Dann sollte ich vielleicht vorgehen, << erklärte Piper. >>Wir müssen durch den Gang dort drüben, um zum Portal zu gelangen. << Sie deutete auf einen niedrigen Gang hinter dem Schreibtisch des Archivars. Duncan zog den Kopf ein und folgte ihr in eine Kammer, die von unzähligen Kerzen erhellt wurde. Allerdings schwebten die Kerzen gut zwei Metern Höhe, so dass Duncan einigen Wachstropfen ausweichen musste, die herabfielen. Das Portal war ein aus grauen Steinen gemauerter Torbogen, der im Zentrum des Raumes stand. Duncan konnte dahinter die Wand der Kammer sehen. Dieser Durchgang hatte absolut nichts Magisches oder Mysteriöses an sich. Piper sah ihn noch einmal an, dann trat sie durch den Torbogen,
ohne auf der anderen Seite wieder zu erscheinen. Duncan dachte zuerst an eine optische Täuschung und blickte hinter den Durchgang, betrachtete ihn von allen Seiten, doch er sah nichts außer den stumm dastehenden steinernen Torbogen. Er trat so nahe wie möglich heran und betrachtete die Luft zwischen den Steinen und vermeinte, ein Flirren zu erkennen, als plötzlich eine Hand aus dem Nichts erschien, ihn packte und vorwärts zog. Es war, als würde die Welt zusammen gefaltet und eine Neue entfaltet. Als würde man zwischen mehrere Spiegel treten und sein eigenes Spiegelbild bis in die Unendlichkeit hin betrachten. Dann kehrte die Normalität zurück und Duncan spürte festen Stein unter seinen Füßen. Er hatte während des Übergangs die Augen geschlossen und wagte nun nicht, sie zu öffnen. Es roch nach schmutzigem Wasser, Laub und feuchter Erde. Dazu kam ein Geruch, den Duncan nicht kannte und näher beschreiben konnte. Am ehesten erinnerte er ihn an den Geruch von abgebrannten Feuerwerkskörpern, Schwefel und Schwarzpulver. >>Die kannst die Augen ruhig öffnen, << hörte er Piper neben sich sagen. Duncan kam ihrer Aufforderung nach und fand sich auf einer Straße mitten in London wieder. Er wusste sofort, dass es London war, denn in der Ferne sah er Big Ben aufragen, auch wenn der Turm seltsam verändert wirkte. Als er sich Piper zuwandte, wich er überrascht einige Schritte zurück. Ihre Haare fielen wieder offen über ihre Schultern, doch trugen sie nun die Farbe von Bronze und schienen wieder von ihrem seltsamen Eigenleben erfüllt zu werden. Piper’s Haut war Weiß wie Kreide und nur ihre Lippen glühten in einem tiefen Burgunderrot. Sie bemerkte seine Verwunderung und sagte: >>Hier sind wir alle so, wie wir erschaffen wurden. Unsere Tarnung, die wir in der realen Welt benutzen müssen, fällt von uns ab. Tarnen kann sich in der dieser Welt nichts und niemand. Willkommen in der Schattenbreite! <<