Andrés Exfrau geht es ähnlich und stillschweigend löst man wenigstens ein kleines Problem damit, daß bei jedem Wachstumsschub, den Andrés Sohn Andreas macht, André ein paar neue Kleidungsstücke für Andreas bezahlt, während Dennis dafür die zu klein gewordenen Kleidungsstücke erhält. Es schmerzt Corinna schon ein wenig, daß Dennis so nie zu neuen Kleidungsstücken kommt, zu solchen, die er vielleicht auch selbst gern mal hätte. Dennis läßt sich allerdings nichts anmerken, zumindest die ersten Jahre nicht. Er ist es ja auch nichts anderes gewohnt. In Deutschland hatte er die Hosen, Pullover und Jacken der Kinder seiner Halbschwester bekommen. Diese hatte einen unersättlichen Kaufrausch, und jedesmal, wenn die Kinderschränke wieder aus den Nähten platzten, stellte sie große Wäschepakete für Dennis zusammen, die einerseits von ausgezeichneter Qualität waren, darauf achtete sie stets, und andererseits nicht abgetragen waren. Corinna sah also keinen Grund, schon damals nicht, zusätzlich noch neue Kleidung zu kaufen. Und Dennis war noch jung und legte noch keinen Wert auf ausgesuchte Kleidung eines speziellen Labels.
Viel später aber, irgendwann, schwärmt er dann doch mal von einer schwarzen Lederjacke mit Popnieten und von schwarzen Lederstiefeln mit einer ziselierten silbernen Platte vor dem Schienbein, solchen Stiefeln, die Michael Jackson bei seinen Bühnenauftritten trägt. „Unmöglich“, und „niemals“, meint André, der im Grunde doch sehr konservativ ist. Corinna aber erkennt, daß Dennis hier erstmals einen sehnlichen Wunsch äußert, und egal, was sie selbst über seinen Wunsch denkt, und egal, ob André diese Kleidung als unpassend ansieht, so wird sie ihrem Sohn diesen Wunsch erfüllen. Er hat bisher schon auf so vieles verzichten müssen, ohne ein Wort des Klagens oder Herummeckerns. Andere Kinder, davon ist sie fest überzeugt und sieht es auch an Andrés Kindern sehr deutlich, hätten ihren Eltern längst die Hölle heiß gemacht. Und so fährt sie eines Tages mit Dennis in die Innenstadt und ersteht beides, Lederjacke und Stiefel, für nicht wenig Geld. Dennis strahlt und ist überglücklich. André ist überhaupt 'not amused' und seine Kinder bemerken hinter vorgehaltener Hand und sehr abfällig, daß Dennis wirklich so 'ganz anders' sei als sie. Corinna aber steht voll hinter ihm. Sie findet, ein Kind, Jugendlicher, muß die einzelnen Phasen der Pubertät ausleben dürfen, um sie unbeschadet hinter sich zu bringen, auch wenn die Eltern nicht immer mit allem einverstanden sind, was das Herz eines Jugendlichen erfreut.
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Das Leben in Schweden ist, besonders für Corinna, zu Beginn nicht einfach, aber trotzdem wunderbar. Corinna hat in André die Liebe ihres Lebens gefunden. Sie harmonieren so wunderbar zusammen. Sie arbeiten in derselben Firma, und André läßt es sich nicht nehmen, jeden Mittag von seinem Büro die knapp sechs Kilometer bis zu Corinnas Büro zu fahren, um mit ihr gemeinsam dort in der Kantine zu essen. Sie wollen einfach so oft wie möglich zusammen sein.
Die Wochenenden sind traumhaft. André fährt meistens schon am frühen Freitag nachmittag runter in den Bootshafen, um die von ihm für das Wochenende bereits eingekauften Lebensmittel im Boot zu verstauen. Wenn dann Corinna nach Hause kommt, packt sie schnell ein paar Kleidertaschen für sie beide und Dennis. Frische Handtücher und Bettwäsche sind auch immer dabei. Andrés Exfrau hatte vorher, während der früheren Familien-Bootstouren lieber Schlafsäcke verwendet. Jetzt freut André sich darüber, daß Corinna diese Gewohnheit nicht übernehmen will, sondern daß sie richtige Bettdecken und Bettwäsche viel gemütlicher und kuscheliger findet. Das Boot wird für sie zu einem eigenen gemütlichen Heim für die Wochenenden und auch für die Ferien.
Sie verlassen am späten Nachmittag den Hafen. Das Verdeck des geräumigen Motorbootes ist weit nach hinten geöffnet. Corinna sitzt im Windschatten neben André auf dem Fahrersofa, Dennis sitzt auf der anderen Seite des Ganges auf dem Beifahrerstuhl. Alle tragen Schwimmwesten. Damit ist André sehr genau und kennt kein Pardon. Sobald das Boot ruhig und geschmeidig das Hafengelände verlassen hat, drückt André das Hand-Gaspedal langsam herunter, das Boot beschleunigt nun stetig. Erst hebt sich die Nase des Bootes hoch aus dem Wasser, um sich dann mit zunehmender Geschwindigkeit langsam auf die Wasseroberfläche herunterzusenken. Nun ist die Marschgeschwindigkeit erreicht und das Boot gleitet mit 24 Knoten über das Wasser. Bewundernd und verliebt schaut Corinna hinüber zu André. Ihr gefällt, was sie sieht. Er liebt und beherrscht sein Boot, und gemeinsam werden sie nun viele schöne Stunden in diesem Boot verbringen können. „Gefällt dir mein Boot?“ André muß schon ein wenig lauter sprechen, weil das Verdeck offen ist und der Motor nicht weniger als 150 PS hat, was einige Geräusche verursacht.“Boot ist gut, bei uns nennt man das schon eher eine Motoryacht“, ruft Corinna in gleicher Lautstärke. „Bei uns ist es einfach ein Boot“. André lacht breit zu Corinna herüber und steckt sich dann seine Pfeife zwischen die Zähne. Mit seinem Vollbart und der Pfeife ist er ein richtiger Skipper, ihr Skipper.
Dennis schaut sich die vorbeifliegende Landschaft an. Es sind noch andere Boote unterwegs, die meisten fahren in dieselbe Richtung. Hinaus ins Wochenende, hinaus in das Ostsee-Inselmeer, den sogenannten 'Skärgården' mit seinen 100.000 Inseln. Wieder andere kommen ihnen entgegen. Sie werden sich einen Inselplatz im Mälaren, dem drittgrößten Süßwassersee Schwedens, suchen, in dem es unzählige Inseln gibt, kleine und große. Die meisten bieten die Möglichkeit anzulegen und einige Zeit dort zu verbringen.
Die Luft ist klar und lau. Heute ist es wieder ein sehr warmer Tag, aber im Fahrtwind merkt man das nicht. Kein Wölkchen ist am Himmel. Corinna liebt diesen klaren Himmel, der sich im blanken Wasser des Mälaren widerspiegelt. Die Fahrt geht zunächst einmal eine knappe Stunde lang vorbei an Kleinstadt-Wohngebieten, Parklandschaften und mehreren anderen kleinen Bootclubs. Schließlich erreichen sie die belebte und ehrwürdige Altstadt von Stockholm, fahren vorbei am Rathaus, mit der goldenen Kuppel und den drei goldenen Kronen obendrauf und vorbei an den romantisch erhaltenen alten Häusern mit all den Touristen, die sich in den engen Gassen tummeln.
Hier drosselt André die Geschwindigkeit wieder. Es kreuzen immer wieder Boote die markierte Fahrrinne und auch größere Ausflugsboote sind unterwegs, die jedesmal erst eine größere Bugwelle und dann einen Rücksog verursachen, den André zu parieren hat. Er hat das im Griff. Langsamer geht es dann weiter in die Einfahrt zur Schleuse, die den Mälaren und die Ostsee bei einem Höhenunterschied von etwa einem Meter verbindet. Hier vermischen sich Süß- und Salzwasser oder eher das Brackwasser der Ostsee mit dem Süßwasser des Mälaren. Der Mälaren dient als Trinkwasserquelle für ganz Stockholm, und das Wasser in der Innenstadt ist von so guter Qualität, daß dort schon so mancher prächtige Lachs gefangen und auch gegessen werden konnte.
An der Anlegestelle warten schon mehrere Boote auf das Öffnen der Schleuse, und schließlich wechselt die Ampel auf grünes Licht, das Einfahren in die Schleuse ist jetzt erlaubt. Langsam gleiten die Boote in die Schleuse, die Platz für etwa zwanzig Boote bietet, beidseitig je zehn, wobei sich Bug an Heck und wiederum Bug an Heck schmiegen müssen. Der Schleusenwärter dirigiert über Lautsprecher, welches Boot an welcher Seite anzulegen hat. Hier muß man aufmerksam zuhören. Zuwiderhandlung wird vom Schleusenwärter mit schimpfenden Kommentaren bestraft. Corinna ist nicht ängstlich und lernt auch schnell, in langsamer Fahrt vorsichtig an Deck zu steigen, mit dem Bootshaken eines der Festhalteseile an der Schleusenwand zu ergattern, um dann sitzend das Boot seitlich an die zugewiesene Schleusenwand zu ziehen. Nun kann André den Motor abstellen. Corinna sitzt vorn an Deck und hält das Boot eng an der Schleusenwand, André geht mittlerweile achtern und ergreift ebenfalls eines der Seile. Nach einer Weile schließt sich das Mälar-Schleusentor und langsam wird das Wasser abgelassen, bis das Niveau der Ostsee erreicht ist. Das Boot sinkt. Corinna und André halten nun die Festhalteseile mit den Bootshaken. Nun öffnet sich langsam das Ostsee-Schleusentor, erst nur einen Spalt, dann langsam immer weiter, wobei ein Sog entsteht. Hier müssen sie die Seile kräftig festhalten. Schließlich beruhigt sich das Wasser, die Ampel schaltet auf grün und die Bootskarawane setzt sich vorsichtig im Reißverschlussprinzip wieder in Bewegung in Richtung Ostsee. Auf der anderen Seite warten bereits andere Boote auf den Einlass, und das ganze Spiel geht wieder von vorn los, diesmal in