Corinna legt den Hörer auf die Gabel, schreibt schnell einen Zettel für André, legt ihn auf den Küchentisch und verläßt die Wohnung. Sie kann nicht einfach so herumsitzen und warten. Das muß sie untersuchen. Sie fährt zur S-Bahn, nimmt den nächsten Zug, steigt um in die U-Bahn und kommt nach zwanzig Minuten zur Station Karlberg. Sie sucht den Stationsschalter und beobachtet schon von weitem munteres Treiben in dem eingeglasten Raum. Sie tritt etwas näher. Am Schalter sitzt Anja, eine Kontrolleursmütze auf dem Kopf. Unter den seriösen Augen des hinter ihr stehenden Kontrolleurs stempelt sie Fahrscheine der passierenden Fahrgäste ab. Corinna kann Dennis nicht entdecken und wird gleich wieder unruhig. Sie geht noch etwas näher heran und späht in den Hinterraum des Schalters, dessen Tür offen steht. Da steht Dennis, zusammen mit zwei anderen Jungen und einem Mädchen vor dem besagten Vogelkäfig. Ein Mädchen wechselt gerade umständlich das Trinkwasser, Dennis hat ein Futterpaket in der Hand. Ein weiterer Kontrolleur sitzt mit einer Tasse Kaffee auf einer Küchenbank. Die Kinder reden durcheinander, das kann sie sehen, aber nicht hören. Schließlich geht sie aus der Deckung heraus und an die Schalteröffnung. „Hallo Anja, was für eine Überraschung. Was machst du denn hier? Ist Dennis auch da?“ „Ach, hallo. Ja“, sie dreht sich mit dem Drehstuhl halb nach hinten und ruft in die geöffnete Tür hinein „Dennis, komm mal, du hast Besuch“. Da schaltet sich der Beamte ein „Oh, hoher Besuch, ist das etwa Dennis' Mama? Oh, sie müssen unbedingt hereinkommen. Bitte, bitteschön, kommen sie“. Er öffnet die seitliche Eingangstür und bittet Corinna mit überschwänglichen Armbewegungen hinein. Corinna geht zögernd in den Aufenthaltsraum. „Hast du gehört, Bülent, Dennis' Mutter ist vorbeigekommen. Haben wir noch Kaffee da oder müssen wir erst neuen kochen?“. Er spricht Schwedisch mit ausländischem Akzent und sein Kollege scheint auch Ausländer zu sein. Der erhebt sich sofort von der Bank, holt eine saubere Tasse und stellt sie auf den Tisch. Der erste öffnet einen alten Küchenschrank und nimmt eine Likörflasche heraus. „Bitte, Frau Dennis-Mama, sie müssen einen Likör zum Kaffee trinken. Der ist aus meiner Heimat“. „Nein, nein, danke schön, das ist wirklich sehr nett, aber ich wollte eigentlich nur mit der Bahn nach Hause fahren, und da habe ich hier Anja und dann auch Dennis gesehen. Was machen denn die Kinder eigentlich hier?“ Sie wendet sich nun an Dennis, der ganz ruhig antwortet, die Vogelfutterpackung in der Hand und ohne die Augen vom Käfig zu nehmen. Der grüne Wellensittich hüpft zufrieden von einer Stange zur anderen. „Du, die Anja und die anderen sind hier fast jeden Tag nach der Schule. Wir müssen doch den Vogel füttern und die Blumen gießen. Die gehören nämlich uns.“ - „Ach, wissen sie, die Kinder haben sich hier mit meinem Sohn Özlem angefreundet. Die spielen immer erst ein wenig zusammen, bis sie dann alle nach Hause fahren. Özlem hat sie eines Tages einfach mit hier herein gebracht. Uns macht das nur Spaß. Die verstehen sich alle so prima“. Sohn Özlem grinst über beide Ohren und nimmt sich noch ein Plätzchen aus einer Blechdose auf dem Tisch.
Corinna fällt ein Stein vom Herzen. Warum muß sie denn auch immer gleich an das Schlimmste denken. Es gibt wirklich noch einfach nur nette und gastfreundliche Menschen.
Viele Monate später fährt Corinna zusammen mit Dennis nach Stockholm, mit S- und U-Bahn. Corinna fährt normalerweise immer nur mit dem Auto, aber heute will sie mal schauen, wie gut Dennis mittlerweile die Strecke und den Verkehr beherrscht. Sie selbst hat so gut wie überhaupt keine Ahnung, kann gerade mal ein einziges Ziel erreichen und stellt sich auch einigermaßen dumm an, wenn es darum geht, die richtigen Bahnsteige zu anderen Stadtteilen zu finden. Ohne ständiges Fragen geht bei ihr gar nichts. Dennis erklärt seiner Mutter genau, wo es lang geht, wie viele Haltestellen es noch sind bis zum Ziel und wo sie umsteigen müssen, um an den gewünschten Bahnhof zu gelangen. Corinna will eine der feineren Markthallen besuchen, von denen im Büro immer erzählt wird. Dennis ist völlig selbstsicher, und als Corinna in den unterirdischen Gängen der Centralstation munter mit Dennis plaudernd einen Weg einschlägt, zieht er sie plötzlich ein wenig am Ärmel „Dort gehen wir jetzt nicht lang“, und er dirigiert sie nur ein paar Meter weiter seitlich von der eingeschlagenen Richtung. „Ja ha, und warum nicht?“ Corinna versteht nicht sofort, schaut dann aber seitlich über die Schulter zurück. Da stehen mehrere Skinheads in Springerstiefeln und Bomberjacken an die Wand gelehnt. Einer stützt sich mit seinem schmutzigen Stiefel an der Wand ab, ein anderer steht breitbeinig provokativ mitten in der Laufzeile, so daß Vorbeipassierende ausweichen müssen, zwei andere hocken auf dem Boden, Bierbüchsen neben sich, und rauchen, was natürlich hier im U-Bahn-Tunnel nicht erlaubt ist. Dabei schmieren sie irgendetwas mit dicken Stiften auf den Boden. Irgendwie scheinen sie nur darauf zu lauern, daß sich irgendjemand über sie aufregt. Eine seltsames Bild, nicht ohne eine gewisse Spannung. Wie konnte Dennis die Situation nur so schnell erfaßt haben? Sie selbst hat die Typen überhaupt nicht einmal wahrgenommen. Und wie umsichtig von ihm, ihnen lieber aus dem Weg zu gehen, statt in irgendeiner Weise Anlaß zur Provokation zu geben. Corinna ist richtig stolz auf Dennis.
Sie gehen weiter, und diesmal schaut Corinna ein wenig mehr aufmerksam, wohin sie gehen. „Oh, sieh mal, da ist ja schon wieder was los.“ Corinna will es diesmal richtig machen und schon wieder ausweichen, aber Dennis erklärt „Kein Problem. Die sind völlig harmlos, ganz normale Typen“. Vor ihnen stehen einige Punker in einer Ecke und quatschen miteinander. Alle haben hohe, gestylte Hahnenkämme in den verschiedensten, leuchtenden Farben, bunte Jacken, hautenge knallrote oder grellgrüne Hosen. Es wird gelacht. „Die tun einem nichts“, erklärt Dennis und völlig unbehelligt gehen Corinna und er an der kleinen fröhlichen Gruppe vorbei.
Es ist ein schöner Nachmittag gewesen. Corinna hat wieder einiges gelernt an diesem Tag. Vor allem, daß sie sich auf Dennis verlassen kann. Er hat sich problemlos an die Großstadt, den starken Verkehr und an die fremde Sprache angepaßt. Beeindruckend, wie schnell das doch bei Kindern und Jugendlichen geht.
5
Corinna stürzt sich von Anfang an mit Freude in die Arbeit. Es ist wirklich ein großer Vorteil, in einer Weltfirma zu arbeiten. In welchem Land auch immer sie in eine der Niederlassungen kommt, irgendwie fühlt sie sich immer gleich zu Hause. So ist es auch hier in Schweden. Im Gegensatz zu Deutschland hat hier noch jeder Mitarbeiter ein eigenes, wenn auch kleines Büro, ausgestattet mit Möbeln in nordischem Design. Wenn ihr danach ist, kann sie die Tür hinter sich zu machen und in aller Ruhe denken, telefonieren, arbeiten. Corinna hatte in Deutschland auch ihr eigenes Büro gehabt, aber nur, weil sie Führungskraft war, ihre Mitarbeiter hatten sich mit drei oder vier Kollegen ein größeres Zimmer teilen müssen. Corinna mag die Arbeit im Großraumbüro überhaupt nicht. Sie würde sich nicht konzentrieren können, jedes Telefonat der Kollegen, jede Diskussion, würde sofort ihre Gedanken durcheinander bringen. Jetzt ist sie froh, es hier so gut getroffen zu haben.
Ihre Abteilungsleiterin stellt sie erst einmal den Kollegen vor. Alle sind freundlich, machen einen recht netten Eindruck. Man spricht sofort und ausschließlich Englisch mit ihr. Als sie sich an ihrem Arbeitsplatz zurecht gefunden hat, geht ihre Chefin mit ihr die Details ihres Aufgabengebietes durch, sie erklärt die Ziele und Verantwortungsbereiche der Abteilung, deren Struktur und Organisation. Corinna notiert wichtige Details, stellt viele Fragen und ist nach dem Einleitungsgespräch zufrieden mit dem, was sie bereits über ihre Umgebung