Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit. Katja Kerschgens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Kerschgens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847611097
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müssen sich jetzt vorstellen, wie ich dazu seinen Duck Walk hinlege - padampadampadam«, Serafin trommelte auf seinen Tisch, in Nadines Kopfhörer polterte es, als wäre eine Elefantenherde im Anmarsch.

      »Den was?«

      »Kennen Sie! Der Gitarrist von ACDC macht das auch immer. Ein Bein vor, eins angewinkelt, die Gitarre an die Seite gelegt und dann los.«

      Wieder polterte es.

      »Schon gut, jetzt weiß ich, was Sie meinen.«

      »Darf ich Sie Nadine nennen?«, fragte er unvermittelt.

      »Wenn ich Sie Serafin nennen darf.«

      »Deal!«, rief er lachend.

      Kurz darauf kam Micha wieder ins Studio, umgeben von einer Wolke aus Zigarettendunst und kalter Asche. Nadine lag es auf der Zunge, das zu kommentieren, aber für die Kommentare war ihr Tontechniker zuständig, da musste sie nicht auch noch mitmachen.

      »Gut, Ser ..., äh, Herr Noack, dann machen wir mal weiter«, stolperte sie sich wieder in die Arbeit.

      5

      Nadine streckte sich. Dabei berührte sie den Bücherstapel neben sich, was ihr ein Lächeln entlockte. Bücher im Bett, na und? Es gab schon noch trostlosere Umstände. Überhaupt hatte sie allen Grund, bestens gelaunt zu sein. Eigentlich.

      Sie hatte Mr. Stimme gestern zum Lachen gebracht. Das war ein besseres Aufputschmittel als jeder Kaffee dieser Welt. Sie kannte jetzt seinen Vornamen, das war mit Sicherheit ein höchst ungewöhnliches Privileg. Sie hatte Michas Gemecker mit Nichtbeachtung getrotzt. Sie hatte wieder stundenlang dieser Stimme lauschen dürfen. Sie waren gut in der Zeit. Sie plauschten miteinander, während Micha seinen Lungenbrötchen frönte oder sich seinen Kaffee holte.

      Wenn dieses Telefonat gestern Abend nicht gewesen wäre. Ihre Chefin höchstpersönlich hatte sie auf dem Handy angerufen. Es gab einen Produktionsstopp. Die aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzte Fassung des Buches war plötzlich zurückgenommen worden.

      Nadine spürte, dass sie das nervös machte. Was hieß das genau? War das Projekt beendet? Wie sah es mit dem Zeitplan aus, falls das Manuskript wieder freigegeben worden war? Würde sie das Projekt weiter leiten oder war bis zum Neustart Brigitte wieder gesund?

      Sie trottete ins Bad. Doch bevor sie dort ankam, klingelte ihr Handy. Sie sprang quer durch ihren Schlafraum über zwei Bücherberge und schnappte sich das kleine Gerät. Loriot fand das außerordentlich aufregend und hüpfte an ihr hoch.

      »Walters«, meldete sie sich.

      »Hallo.«

      Und was für ein Hallo. Woher hatte Serafin ihre Nummer?

      Die Stimme in ihrem alten Handy verwandelte dieses plötzlich in einen heiligen Gral.

      »Hallo«, hauchte sie.

      »Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«

      »Nein, nein, ich war gerade ... Ich bin wach.«

      »Ich habe von dem Produktionsstopp gehört. Ich soll heute nicht ins Studio kommen. Ihrer Chefin habe ich Ihre Nummer abgeschwatzt. Wissen Sie vielleicht mehr?«

      »Nicht mehr als meine Chefin.«

      »Verstehe.«

      Selbst das Schweigen ließ ihr Handy perlmuttfarben schimmern.

      »Sind Sie heute im Verlag?«, fragte er.

      »Ja, natürlich.«

      »Gut. Das wollte ich nur wissen, damit ich nicht plötzlich dort auftauche. Es liegen neue Verträge vor, doch das muss ja nicht heute sein.«

      »Das ... das ist aber nett, dass Sie dran denken, dass ...«

      »Kein Problem.«

      Neue Verträge? Hieß das, dass ihr Verlag Mr. Stimme für weitere Projekte gewonnen hatte? Und würde sie diese Projekte begleiten? Nadines Herz klopfte an ihre Rippen, als wollte es aus seinem Käfig ausbrechen.

      »Gut, ich denke, wir hören uns«, blitzte es in ihrem Handy gülden auf.

      »Ja, das hoff ... das denke ich auch.«

      Nadine legte das Mobiltelefon sanft zurück auf den Bücherstoß. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen, dann fiel ihr Blick auf die Digitaluhr an ihrem Bett. Nun denn, also Verlagsarbeit heute.

      Der Produktionsstopp und die Aussicht auf die nächsten Tage ohne Mr. Stimme im Ohr verlangsamten ihre Morgenroutine um mindestens zwanzig Minuten. Nach dem Bad und dem kleinen Frühstück, bestehend aus einer Mandarine und einem starken Kaffee, ging sie eine lustlose Runde mit Loriot um den Block. Immer wieder tastete sie nach dem Handy in ihrer Umhängetasche. Nein, es klingelte nicht. Das war wirklich nett von Serafin gewesen, daran zu denken, dass sie sich im Verlag über die Füße laufen könnten.

      Nach der Hunderunde stieg sie in die nächste Straßenbahn ein. Sie hockte sich auf einen der grausig gemusterten Stoffsitze im Stil der 90er Jahre. Sie blickte sich in dem feucht-muffig riechenden Fahrgastraum um. Überall saßen graue Gestalten mit gelangweilten oder genervten Gesichtern. Unauffällig sah sie an sich herab. Heute hatte sie ihren kurzen Jeansrock an, darunter eine blickdichte, royalblaue Strumpfhose, darüber blau-gelb gestreifte Overknees. Ihre Füße steckten in dunkelgelben Sneakers.

      Sie musste sich ein Grinsen verkneifen und griff beherzt in ihre Tasche, um ihr aktuelles »Ich-fahre-Straßenbahn-und-brauche-leichten-Stoff«-Buch hervorzukramen. Sie benutzte keine Lesezeichen, sie wusste auch so, auf welcher Seite sie zuletzt gewesen war. Loriot schnaufte, als wolle er die seichte Lektüre kommentieren.

      Bis zum Verlag waren es diesmal vier Kapitel. Überhaupt maß Nadine die Zeit selten in Minuten oder Stunden, sondern in Seitenzahlen und Leseabschnitten. Sie klappte die vorhersagbare Geschichte eines einsam lebenden Waldschrats und einer jungen, lebenslustigen Frau zu und stieg aus. Loriot kannte den Weg bestens und zog sie energisch Richtung Verlagsgebäude. Nadine seufzte. Viel lieber wäre sie die zwei Stationen weitergefahren, um dann das längere Stück bis ins Studio zu gehen.

      Den Tag verbrachte sie damit, Postberge durchzuarbeiten und Telefonate mit Sprechern zukünftiger Projekte zu führen, Termine abzugleichen und die nächsten Wochen durchzuplanen. So tröpfelten die Stunden vor sich hin.

      Und dann schob irgendwann Heiko den Kopf zur Tür herein. Er war einer der beiden Männer, die im Verlag arbeiteten, und er hielt sich für unwiderstehlich. Das war auch gleich einer der Hauptgründe, warum Nadine ihn nicht leiden konnte. Heiko hatte die Mehrzahl der Kolleginnen bereits - nun ja, er nannte es: beglückt. Wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckte, war ihr grenzenlos egal. Ihr fehlte ohnehin jegliche Phantasie, wie eine Frau sich von diesem leicht angefettelten, dünnhaarigen Typen ... Nun ja.

      »Na Nacho«, begann er in seinem selbstgefälligen Eroberungstonfall, »am Wochenende bereits was vor? Oder darf es mal etwas Besonderes sein?«

      Nadine hatte schon alles ausprobiert, um seinen Annäherungsversuchen auszuweichen. Heute entschied sie sich für die Kurzform: »Ich kann nicht.«

      »Natürlich kannst du. Dein Kalender ist leer morgen.«

      Der Terminplaner, na klar. Dieses vermaledeite Ding, auf das alle im Büro Zugriff hatten.

      »Private Termine trage ich da nie ein«, versuchte sie es, »und schon gar nicht für das Wochenende.«

      »Ach so«, Heiko zeigte einen amüsierten Gesichtsausdruck, »Loriots Friseurbesuche sind also beruflich. Und deine Treffen mit Sarah zum Beispiel auch. Sag mal, wie genau verrechnest du das mit der Personalabteilung?«

      Nadine seufzte genervt und verfluchte die völlige Vernetzung.

      »Ich kann halt nicht.«

      »Netter Versuch.«

      Heiko ließ sich zu ihrem Entsetzen auf den zweiten Bürostuhl fallen. Offenbar war sie heute