Frau vor Sonnenuntergang. Andreas Geist. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Geist
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847682226
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nicht besser von Hand geschrieben hätte. Ich hoffte inständig, dass nicht Bill Gates die Software meines Input-Output-Systems geschrieben hatte, denn sonst könnten sich die Ratten entspannt zurücklehnen.

      Plötzlich hörte das Zerren an meinem Hosenbein auf. Nanu. Hatte die Flucht des Fingerlutschers auch die anderen in die Flucht geschlagen? Die Antwort auf meine unausgesprochene Frage folgte stande pede, wobei stande pede für mich nun wirklich nicht zutraf.

      Das Schnüffeln und Niesen war zurück. Der Herr des Waldes beanspruchte die Beute zuerst für sich. Irgendwie wusste ich die Ehre nicht zu schätzen. Vielleicht käme ein Puma dem Wildschwein in die Quere, dann ein Büffel dem Puma und schließlich ein trompetender Elefant dem Büffel, doch bei genauerer Betrachtung fielen mir keine Fressfeinde des Wildschweins im Schwarzwald ein. Die Würfel waren gefallen, wie hieß das gleich noch mal auf Latein?

      Mein kleiner Finger links zuckte wieder als wollte er sagen: „Moment mal, ich habe eine Idee."

      „Nur zu. Du bist doch näher an meinen Zehen dran als ich. Kannst Du nicht ein Machtwort sprechen und sie aus ihrem selbstgefälligen Dämmerschlaf reißen? Trau dich. Auch ein kleiner David kann eine Goliathaufgabe anpacken“.

      Meine Verzweiflung wich einer wilden Entschlossenheit. Die Gefahr hatte ein Gutes. Sie erhöhte erneut den Adrenalinspiegel und blendete meine Angst vor dem Tod und vor dem Dasein des Krüppels aus. Da war auch noch die Angst, dass ich an diesem einsamen Ort sterben könnte, um vom Jenseits die Stimme des untersuchenden Arztes zu hören: „So ein Pech. Es war nur eine Prellung. Ein paar Minuten früher und wir hätten ihn wieder vollkommen herstellen können“.

      Meine Angst war ein Gefängnis, aus dem ich nicht entrinnen konnte, weil hinter jeder Angst, die ich überwand, eine weitere Angst lauerte. Jede verzweifelte Option, die mein Gehirn konstruierte, endete wieder in Angst. Das war das eigentliche Todesurteil, nein, es war schlimmer.

      Es machte keinen Sinn, Optionen und Fantasien durchzuspielen. Nur das Jetzt zählte. Hatte ich es immer noch nicht verstanden?

      Doch wenn man vom Hals ab gelähmt war, dann wurde die Persönlichkeit reduziert auf die ratternde Mühle des Verstandes. Ein Verstand aber, der über alle Lebensenergie uneingeschränkt verfügen konnte, vergiftete die Seele.

      Mens sana in corpore sano.

      Vielleicht steckte ein tieferer Sinn in diesen Worten, als die Römer ihn dem Komiker Juvenal zugetraut hatten. Es war wichtig ein Gleichgewicht zu wahren zwischen Körper und Geist. Die zwei Pferde vor dem Karren des Logistikons waren jedes für sich in der Lage, den Wagen in Stücke zu reißen.

      Wer den Verstand zu seinem einzigen Gott erhob, der verlor die Gegenwart, denn der Verstand haderte mit der Vergangenheit und projizierte eine verwirrende Anzahl möglicher Szenarien in die Zukunft, bis keine Energie mehr übrig blieb, um das Jetzt in die Hand zu nehmen.

      Ein Mensch, der im Übermaß der Vitalität seines Körpers frönte, wurde nicht nur irgendwann bitter mit Falten und knackenden Gelenken konfrontiert, sondern verlor auch die Segnungen des Verstandes, die es zweifellos auch gab. Der Verstand konnte lernen. Nutzte man ihn sinnvoll, dann eröffnete er die Möglichkeit, Fehler nicht ständig zu wiederholen und mit dem zu enden, was man Weisheit nannte.

      Ich wollte auch alt werden. Ich wollte weise werden und meinen Kindern und Enkeln etwas weitergeben. Ich wollte meinen Körper zurück, damit mein Verstand mich nicht in Stücke riss.

      Sonst noch was? Nein, sonst fiel mir nichts Wichtiges mehr ein. Ich schämte mich für die vielen kleinen Probleme, die ich früher zum Anlass für ein ständiges Wehklagen genommen hatte. Wenn ich hier heil herauskäme, würde sich mein Leben von Grund auf ändern. Ich leistete im Stillen einen heiligen Schwur und stellte verzweifelt fest, dass wieder etwas an meinem Hosenbein zerrte.

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