Frau vor Sonnenuntergang. Andreas Geist. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Geist
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847682226
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war für gewöhnlich gleichzeitig der Endpunkt für eine von ihnen.

      Guten Appetit.

      Ich wollte nicht in einem Heim vor mich hinvegetieren. Aber wollte das spielende Kind denn andrerseits erwachsen werden?

      Musste man nicht immer am Ende eines Lebensabschnitts durch eine dunkle Röhre kriechen, um auf eine neue Ebene des Seins zu gelangen? Diese Röhre war bedrohlich und eng, und niemand wusste, was ihn dahinter erwartete. War es eine Frage des Vertrauens?

      Musste ich einfach darauf vertrauen, dass alles im Leben einen Sinn ergab, dass jeder Abschnitt kostbar war und nur derjenige ein Verlierer, der der Vergangenheit nachtrauerte oder sich nach einer anderen, unerreichbaren Zukunft sehnte? Vielleicht, denn nur die Singularität des Jetzt zählte. Nur das Jetzt war formbar, beherrschbar und nur in ihm könnte ich zu dem finden, was mich von der Amöbe unterschied, nicht gesteuert durch vorgegebene Muster sondern selbst steuernd. Der flüchtige Augenblick gab mir die Möglichkeit mein Leben aktiv zu gestalten, anstatt mich passiv an Dinge zu verlieren, die entweder unveränderbar in der Vergangenheit lagen oder unerreichbar in der Zukunft. Von der Amöbe unterschied mich nicht nur die Chance, sondern die Pflicht Logistikon zu werden, zum Wagenlenker, der den beiden Pferden vor dem Karren, die Platon Begehren und Mut genannt hatte, seine Richtung aufzwang.

      3

      Die Stimmen waren nicht zurückgekehrt. Die Nacht war hereingebrochen und ich fror. Es war unmöglich zu sagen, welcher Temperatursensor diese Alarmdaten an mein Gehirn meldete, da von der Hautoberfläche lediglich der Kopf, die Ohren und der Hals sendebereit waren, abgesehen von den seltenen Schmerzerlebnissen meiner Rückenpartie. Im Gesicht empfand ich lediglich ein Gefühl von Frische, das angenehm und nicht bedrohlich war. Der Himmel war klar und die Sterne funkelten in ihrem kühlen, weißen Licht. Mist!

      Die Temperatur würde unter den Gefrierpunkt fallen. Wie sollte ich meinen Körper warmhalten? Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Vielleicht waren meine Extremitäten bereits steif gefroren und wären selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass mein Nervensystem rebootete nicht mehr zu retten.

      Oh bitte! Kaum hatte ich eine deprimierende Erkenntnis verdaut, da lauerte schon eine weitere um die nächste Ecke.

      Ich konnte verstehen, dass Menschen aus der Hoffnungslosigkeit einen Weg wählten, den man nur alleine gehen konnte. Den Weg der Schlange, die im Nichts der Wüste verloren ging, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vielleicht war dieses Nichts etwas anderes als ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Sie war das Paradies der Schlangen.

      Ich könnte meinem Leben durch eigene Hand ein Ende setzen aber nur, wenn ich wenigstens eine von ihnen noch kontrollierte. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich diese Option gar nicht mehr hatte.

      Es wäre unendlich frustrierend, sich in einer krüppelfeindlichen Welt zu bewegen, wenn man mich denn gegen meinen Willen fände. Und irgendwann würde das Schweigen unerträglich über ein Leben, das keine Schnittstelle mehr mit dem vertrauten Alltag hatte. Spätestens dann brachen die Brücken ab, denn Brücken konnten nur kompatible Welten verbinden, von denen sie jeweils ein Teil sein mussten.

      Warum sollte jemand über eine Brücke eine Welt betreten, in der eine fremde Sprache gesprochen wurde, und die eine Wüste war voller Schlangen?

      Ja, vielleicht gab es ein paar Menschen, die so eine Brücke überschritten aus Abenteuerlust oder Mitleid. Der Grund spielte keine Rolle. So oder so würden sie die Krankheit ihrer vollkommenen Gesundheit einschleppen, die für die Eingeborenen der Wüste tödlich wäre, nicht tödlich für den Leib, sondern tödlich für die Seele. Spätestens dann drängte sich unweigerlich die Frage für sie auf, welchen Unterschied es noch machte, ob sie am Leben waren oder nicht.

      Ich schüttelte den Kopf, wenigstens in Gedanken. So wollte ich nicht enden. Sie sollten mich nicht finden. Nicht so.

      Es sei denn, der Schmerz in meinem Rücken bedeutete eine winzige Hoffnung auf Genesung.

      Die Dunkelheit schaltete die Augen auf stand by und leitete die Energie in die Ohren um. Die Geräusche des Waldes drangen in mein Bewusstsein. Es raschelte im braunen Laub und das Murmeln des Baches zu meiner Rechten bildete einen beruhigenden Kontrapunkt zur kleinen Nachtmusik der sich im kühlen Wind wiegenden Bäume. Da waren sicher Mäuse unterwegs, auf der Suche nach etwas Essbarem.

      „Etwas zu essen wäre jetzt auch nicht schlecht“, dachte ich mir und bemerkte erstaunt, dass meine Speicheldrüsen die entsprechende Software starteten. Ich hatte eine Bruchlandung in der Unendlichkeit des Nordschwarzwaldes hingelegt, die meine kleine Propellermaschine nie wieder verlassen würde, und ein grünes Lämpchen an meinem zerbeulten Instrumentenbord signalisierte, dass das abgerissene Fahrwerk ordnungsgemäß ausgefahren und verriegelt sei.

      Situationskomik zum Heulen. Hatte Antoine auch geheult? Bestimmt. Aber dann kam der kleine Prinz und lenkte ihn von seinem Elend ab. Wo war er jetzt, wenn ich ihn am dringendsten brauchte?

      Ich Idiot. Antoine hatte ihn erschaffen mit der Kraft seiner Fantasie. Alle Achtung. Er war in seiner Situation genau wie ich zum Passivisten verdammt gewesen. Dennoch war er uneingeschränkter Herrscher über seinen Verstand geblieben. Dort war er frei und nicht gestrandet. Es gab immer diesen Ort, an dem man seine Opferrolle verlassen konnte, an dem man zum Aktivisten wurde und die Würde des Menschen zurückgewann, der seinen Lebensweg aufrecht ging in die Richtung, die er selbst gewählt hatte.

      Sollte ich mir auch einen kleinen Prinzen ausdenken? Sollte ich mir einen Pinocchio schnitzen, ihm Leben einhauchen und ihn alles lehren, was ich wusste, bis er schließlich in meinem Kopf ein Eigenleben führte? Ein perfekter Gesprächspartner meiner Selbstgespräche.

      Ich kicherte in mich hinein, und ein erneuter Hustenanfall zwang mich zur Ruhe.

      Ein weiteres unbekanntes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. So dicht am Fluss musste es Ratten geben. Ein Schauer lief mir über den Rücken, zumindest projizierte mein Gehirn etwas an diesen Ort, das sich so anfühlte. Ratten waren Allesfresser und ich könnte sie nicht vertreiben. Das Rascheln kam näher. Ich spürte einen Luftzug an meinem rechten Ohr. Etwas beschnüffelte mich. Ein Schwall faulen Atems drang mir in die übersensible Nase.

      Etwas umrundete mich, berührte meine Haare und verschwand in Richtung Flussufer. Ich hoffte, dass der Nager in mir kein kostenloses, kaltes Buffet sah, zu dem er gerade ein paar Freunde einladen ging. Ich verdrängte den Gedanken, denn ich könnte ihre Entscheidung ohnehin nicht beeinflussen.

      Es raschelte schon wieder, diesmal in den Büschen links am Hang. In das Murmeln des Wassers mischte sich eindeutig das Wühlen einer Schnauze, unterbrochen von einem Schnüffeln und Niesen.

      Ein Wildschwein! Waren die gerade in der Brunftzeit oder hatten sie schon Junge?

      Das Tier kam näher. Es hatte wahrscheinlich meinen Angstschweiß gewittert. Fraßen Wildschweine auch Menschen? Ich wäre eine leichte Beute und eine hübsche Energiereserve für den Rest des Winters. Anstelle des Schweins würde ich nicht lange überlegen. Ein weiterer Schauer lief mir über den Rücken, ohne dass ich es auf eine vertraute Weise spüren konnte, und ließ selbst meinen unerschütterlichen Galgenhumor verstummen. Ich erinnerte mich daran, gelesen zu haben, dass es bei der Mafia üblich war, Verräter hungrigen Schweinen zum Fraß vorzuwerfen, wenn man ihnen einen besonders grausamen Tod bereiten wollte. Ich beruhigte mich damit, dass dieses Wildschwein ja nun nicht extra gefastet hatte in Erwartung des Festmahles, das überraschend auf seinem Streifzug lag.

      Es stupste mein linkes Bein an.

      „Lass das! Ich muss absolut still liegen“, krächzte ich in Richtung des nächtlichen Besuchers. Das Tier hatte offenbar verstanden und trottete nach seiner eher oberflächlichen Untersuchung davon. Wollte es ebenfalls ein paar Freunde dazu holen mit der aufregenden Neuigkeit:

      „He, da liegt ein riesen Schinken regungslos am Bach und das Verrückteste ist, der spricht unsere Sprache“.

      Wenn sie sich nur mit mir unterhalten wollten, kein Problem. Gesellschaft hatte ich gerne, aber bitte zivilisiert und jeder