Jetzt sah ich auch, daß sowohl meine Eltern als auch der andere fremde Mann zu uns hergekommen waren und uns zuhörten.
›In unserer Familie sind viele, denen es ebenso ergeht,‹ sagte jetzt der zweite Fremde mit leiser Stimme zu meinem Vater, ›aber ich habe bis heute nicht gewußt, daß mein Bruder hellseherisch ist.‹
Der jedoch, der mit mir gesprochen hatte, richtete den Blick wieder auf das Fenster, und gleich darauf wich er erschrocken zurück.
›Jetzt hat sie mich angesehen!‹ rief er. ›Und jetzt ist es gewiß aus und vorbei mit mir.‹
Es machte einen sonderbaren Eindruck, daß er, ein außerordentlich großer starker Mann, sich so fürchtete. Aber nicht einmal meine Mutter, die sonst leicht lachte, verzog den Mund auch nur zu einem Lächeln.
›Wir wollen ein Gesangbuchlied singen, flüsterte ich ihr zu. Und wir stimmten den ersten besten Liedervers an, der uns in den Sinn kam.
Während wir sangen, hörte der Regen auf. Die graue Wolke stand nicht mehr wie eine Mauer über dem Flusse, und in die Kammer fiel ein Sonnenstrahl herein.
Der Mann, der eben das Gesicht gehabt, war auf einen Stuhl gesunken und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Er wagte weder aufzublicken, noch sich zu rühren.
Aber als es jetzt wieder heller und freundlicher wurde, begann der Bruder ihm vernünftig zuzureden.
›Komm, komm, Jon!‹ sagte er. ›Das Wetter ist wieder schön, und wir können weitergehen. Wenn du jetzt den Kopf in die Höhe hebst, wirst du sehen, daß alles verschwunden ist.‹
Aber Jon saß noch immer mit den Händen vor dem Gesicht zusammengesunken da und hob nur den Ellbogen, um den Bruder abzuwehren.
›Nein, Anders, nein, laß mich in Ruh'!‹ sagte er. ›Ich wag' es nicht.‹
Da schaute Anders uns an und schüttelte den Kopf.
›Es ist ja kein Wunder, wenn er sich fürchtet,‹ erklärte er. ›Denn das, was er gesehen hat, ist tatsächlich in früheren Zeiten einmal gewesen; auf dem Hof, von dem er sprach, ist unser Urgroßvater geboren.‹
›Er sagte doch, dieser Hof heiße Hånger?‹ warf ich ein, da keines von den anderen ihm etwas erwiderte.
›Ja,‹ sagte er, ›er heißt Hånger, und er liegt in Dalsland, und wir, die wir von dort abstammen, heißen die Hångerer Riesen. Wir sind von größerem Körperbau als andere Menschen, und die Leute sagen, man könne nur schwer mit uns auskommen. Ich selbst aber kann nichts Außergewöhnliches an uns finden, ausgenommen, daß wir alle, einer wie der andere, durch Selbstmord endigen. So war es bei meinem Vater und bei meinem Großvater und auch schon bei dessen Vater.‹
Nachdem er also gesprochen hatte, wurde es wieder ganz still im Zimmer. Ein Schauder überlief uns, und wir konnten weder etwas fragen, noch etwas sagen. Der Fremde jedoch meinte wohl, nachdem er soviel gesagt habe, müsse er fortfahren.
›Nun, es soll auf einer alten Geschichte beruhen,‹ begann er wieder. ›Die Männer, die damals auf Hånger wohnten, waren reiche, eigensinnige Menschen, die vor niemand den Nacken beugten und fast immer mit den Pfarrern in Streit gerieten. Ja, einer von ihnen soll gar einen Pfarrer aus Eifersucht erschlagen haben. Aber es kam nie heraus, wer an dem Morde schuldig war. Die Untat ist nie gesühnt worden, und deshalb mußten von jenem Tage an alle Männer von Hånger durch eigene Hand oder durch die anderer eines gewaltsamen Todes sterben.‹
›Aber so kann es doch unmöglich sein!‹ rief meine Mutter. ›Die Unschuldigen müssen doch nicht für die Schuldigen leiden.‹
›Ach, man weiß nie, wie es sich damit verhält,‹ erwiderte der Mann. ›Auf Hånger aber lebte damals noch eine Frau, die Mutter dessen, der den Pfarrer erschlagen hatte. Von ihr heißt es, sie habe alles gewußt, sie habe auch ihrem Sohne geholfen, die Leiche unter dem einen Torpfosten zu vergraben, und noch lange nach dem Tode des Sohnes habe sie diesen Pfosten eifrig bewacht, damit er nicht umgehauen und nicht beschädigt oder mit einem anderen vertauscht würde. Sie zog in eine Kammer hinunter, die dicht bei dem Hoftor lag, und dort saß sie und hielt Tag und Nacht Wache, ja, es gibt Leute, die behaupten, sie bewache ihn heute noch. Jetzt gehört Hånger einer anderen Familie, und die Riesen sind nach allen Himmelsrichtungen zerstreut; aber alle, die mit der alten Frau zusammenhängen, scheinen sie sehen zu können. »Sie bleibt bei uns,« sagen die Leute, »und paßt wohl auf, damit sich keiner der Sühne des großen Verbrechens entziehe«.‹
Aber meine Mutter war ganz empört.
›Das kann doch unmöglich so fortgehen sollen,‹ sagte sie. ›Ihr müßt entschieden etwas tun, um dieser Sache ein Ende zu machen.‹
›Ja, das ist sehr richtig,‹ meinte der Mann, ›und es gibt auch solche, die es versucht haben. Zwei davon haben sich ausgedacht, es könne gut sein, wenn sie selbst Pfarrer würden. Aber ich weiß nicht, ob das der alten Frau recht war. Der eine von ihnen ist in jungen Jahren gestorben, der andere lebt noch.‹
Ich erschrak immer mehr, und als ich mir alles zusammenreimte, was geschehen war, da wußte ich schon, was für eine Antwort ich auf die Frage bekommen würde, die ich jetzt an den Mann richtete, nämlich die Frage:
›Heißt er vielleicht Rhånge?‹
›Aber Kind, was denkst du?‹ rief die Mutter.
Der Mann antwortete mir sofort:
›Gewiß, ganz richtig. Er nennt sich Rhånge; das ist nur eine Abänderung von Hånger. Er ist Pfarrer in Applum in Bohuslän und soll sich, wie ich gehört habe, in diesen Tagen mit einer Tochter des Propstes von Stenbroträsk verheiraten.‹«
Der Mann, der auf dem Eckplatz saß, machte eine heftige Bewegung.
»Nun, ich will nicht behaupten, daß man zuviel auf solche alte Geschichten geben soll,« sagte Lotta Hedman. »Aber etwas ist vielleicht doch daran, und wer weiß, nachdem ich dies gehört, ist es am Ende unrecht von mir gewesen, daß ich Sigrun nicht nach Bohuslän begleitet habe. Und vielleicht mißglückt mir gerade deshalb alles. Wohl hab' ich die Fähigkeit, zu sehen und zu hören, wieder erlangt, aber niemand will auf mich merken, und das ist vielleicht die Strafe, weil ich Sigrun gegenüber meine Pflicht nicht erfüllt habe. Und falls ich jetzt recht daran tue, wenn – – –.«
Sie brach plötzlich ab. Ihre eben noch so beweglichen Züge wurden starr und steif.
»Ich sehe etwas,« sagte sie. »Ich sehe große Schneeflächen. Es ist sehr hell. Und ein Zelt ist da, ein schwarzes Zelt, und ein großer Schlitten...«
Gerade in diesem Augenblick fuhr der Zug an einem Bahnhof vor. Lotta Hedmans Reisegefährte sprang rasch von seinem Platz auf und hob den Arm, um seine Sachen herunterzunehmen.
Lotta Hedman merkte es nicht. Sie war ganz von dem hingenommen, was sich ihr offenbarte.
Als der Mann aus dem Zug gestiegen war und auf das Bahnhofsgebäude zuging, hörte er, wie Lottas Stimme ihn zurückrief; er schritt jedoch weiter, ohne sich umzudrehen.
»Mir ist befohlen,« rief Lotta, während sie mit aller Kraft an dem Ledergurt zerrte, um das Fenster herunterzulassen, »mir ist befohlen, Ihnen zu sagen, daß Sie an dem, was Sie glauben, getan zu haben, unschuldig sind!«
Endlich glückte es ihr, das Fenster herabzulassen, und sie rief dieselben Worte noch einmal. Aber jetzt war der Mann verschwunden.
Die Begegnung
Zwei Tage später saß Lotta Hedman in einem Postkarren und fuhr auf einer steinigen Landstraße durch das Kirchspiel Algeröd, das im östlichen Bohuslän, weit weg vom Meer, dicht an der Grenze von Dalsland liegt.
»Barmherziger Himmel!« dachte sie, als sie um sich umschaute. »Hier ist es ja noch schlimmer als in Lappland. Soviel kahlen, felsigen Boden hab' ich meiner Lebetage nicht gesehen. Wie können Menschen in einer solchen Steinwüste leben und ihr Auskommen finden?«