Und dann machte ich noch einen Versuch. Ich dachte daran, wie Sigrun gewesen war, als sie mich vor ein paar Monaten ausgesucht und mir erzählt hatte, sie habe sich mit einem Pfarrer verlobt, den sie während des Besuchs bei ihren Verwandten kennengelernt hatte.
Ihr Verlobter war Pfarrer, und darüber war sie besonders glücklich gewesen. Das passe für sie als Tochter eines Propstes so sehr gut. Und ich solle nur annehmen, er sei erst Anfang der Dreißiger und doch schon erster Pfarrer in einem Kirchdorfe mit einer eigenen Gemeinde. Diese sei allerdings ziemlich klein, aber er werde auch nicht lange dort bleiben, denn er sei hochbegabt und bringe es gewiß noch bis zum Bischof. Jedenfalls habe er sein eigenes Heim, und das sei herrlich, da könnten sie schon gegen den Herbst heiraten.
Zuerst war ich freilich ein wenig erstaunt, denn ich hatte ja immer gehört, Sigrun wolle Krankenschwester werden; aber sie erklärte, das sei ganz dasselbe wie eine Pfarrfrau. Ja, dies sei eigentlich ein viel schönerer Beruf, denn jetzt werde sie eine ganze Gemeinde bekommen, der sie helfen und beispringen könne.
In dem Augenblick, wo ich an dies alles dachte, schaute ich voller Zuversicht hinaus. Aber da sah es noch schlimmer aus, denn jetzt war die alte Frau aufgestanden, und ich begegnete ihrem Blick. Finsterer Zorn und tiefer Haß loderten darin; sie hob eine knochige Hand empor und schüttelte diese drohend gegen mich, während sie mit der anderen auf den Torpfosten deutete. Es war, als wolle sie sagen, wenn ich diesen Torpfosten berühre, werde es mir schlecht ergehen.
Sie war fürchterlich und flößte mir großen Schrecken ein, zugleich aber sah sie jämmerlich alt und ohnmächtig aus, und ich hätte am liebsten aus Mitleid mit ihr geweint.
Doch in dem Augenblick, wo sie die Hand erhob, war alles verschwunden. Alles miteinander, der Hof, die alte Frau und der Torpfosten. Es war, als sei alles niemals dagewesen. Und ich hatte wahrlich ein Gefühl großer Erleichterung.
Warum sollte ich ängstlich sein, wenn Sigrun ihren Bräutigam ein paar Tage auf Besuch da hatte? Oder warum brauchten Vater und Mutter so besorgt dazusitzen, weil sie ihn heute in der Kirche gesehen hatten?
Und dann tauchten plötzlich ein paar Köpfe am Flusse auf. Ich empfand eine solche Freude, daß ich sofort den Eltern zurief:
›Ich glaube wahrhaftig, da kommt Sigrun und will mir ihren Bräutigam zeigen! Kommt doch einmal her und seht, ob sie das sind, die dort vom Fluß her auf unser Haus zugehen.‹
Da versteckte die Mutter rasch ihre Pfeife, rückte sämtliche Stühle zurecht und wischte ein paar Tropfen Wasser auf, die auf dem Fußboden verschüttet waren.
Der Vater aber trat zu mir ans Fenster, und wir betrachteten die beiden. Und als der Bräutigam jetzt Arm in Arm mit seiner Braut daherkam, sah ich ihn zum erstenmal. Er war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut, gut gewachsen und breitschultrig. Und er hatte einen schönen, wohlgeformten Kopf. Ich konnte keinen Fehler an ihm entdecken, es sei denn, daß er kurzsichtig war und eine Brille trug.
Als die beiden hereinkamen, sahen sie stolz und glücklich aus. Ich war auch sehr erfreut über Sigruns Verlobten und sehr glücklich, weil sie zu mir gekommen waren. Er sah aus, als könne er seine Frau vor allen Stürmen des Lebens beschützen. Solange sie eine solche Stütze neben sich hatte, würde sie nie unglücklich oder verzagt sein können.
Der Bräutigam begrüßte meine Eltern äußerst freundlich. Aber als er auf mich zukam, blinzelte er ein wenig mit den kurzsichtigen Augen und setzte eine scherzhafte Miene auf.
›Ach so,‹ sagte er, ›das ist also die große Seherin von Stenbroträsk. Vor ihr fürchte ich mich. Sie kann ja ganz durch die Menschen hindurchsehen. Wie schrecklich, wenn sie nicht mit mir zufrieden wäre!‹
Er lachte, und Sigrun lachte auch, und auch meine Eltern verzogen den Mund zu einem Lächeln.
Und es war, als sollte ich ebenso vergnügt sein, wie wenn ich nur dazu da wäre, daß man sich über mich lustig machte.
Zuerst wurde ich dunkelrot, denn das Blut schoß mir heiß in die Wangen. Und dann fühlte ich, wie etwas Steifes und Hartes über mich kam. Ich konnte nicht begreifen, daß ein Mensch so offen über das, was mein heiligstes Geheimnis war, zu sprechen wagte. Wie hatte Sigrun nur ihrem Bräutigam etwas verraten können, was ihr im tiefsten Vertrauen gesagt worden war?«
Lotta Hedmans Stimme bekam wieder jenen kreischenden Ton, wie bei der Erzählung von ihrem einsamen, harten Leben. In ihrer Seele erwachte von neuem ein durchdringender Schmerz.
Der Mann vor ihr schaute sie mit einem wehmütigen Lächeln an.
»Das hätten Sie sich denken können, daß Sigrun so handeln würde,« sagte er. »Sie hatte sich ihrem Verlobten mit ihrer ganzen Seele, mit all ihrem Denken und allem, was sie erlebt hatte, zu eigen gegeben.«
»Ja, das mag wohl sein,« erwiderte die Erzählende, »aber es war schwer für mich. Meine Mutter versuchte statt meiner zu antworten,« fuhr sie fort, »denn sie begriff wohl, daß ich nichts sagen könne.
›Ja, dieses Mädchen hier hat eine recht unverständige Mutter,‹ bemerkte sie. ›Aber Gott hat mein Gebet erhört, er hat mir eine Tochter geschenkt, die mehr sieht und versteht als andere Menschen.‹
Ich fand meine Mutter wirklich tapfer. Am liebsten wäre ich auf die Knie gesunken und hätte ihr gedankt; aber auch sie verstummte, als sie jetzt ein scharfer Blick unter der Brille hervor traf, und der Pfarrer dann mit lauter, ernster und wuchtiger Stimme, wie wenn er auf einer Kanzel stünde, zu sprechen begann:
›Wir müssen vorsichtig sein, wir Christen, damit wir nicht in das Heidentum zurücksinken,‹ sagte er. ›Denn ein Mensch, der in das Übernatürliche einzudringen versucht, will gleichsam seinen eigenen Weg gehen und nicht den, den Jesus Christus uns gebahnt hat. Er will sich seine eigenen Götter wählen und macht sich schließlich vielleicht selbst zu einem Gott.‹
Auf diese Weise predigte er eine ganze Weile. Und nun war niemand mehr im Zimmer, der ihm zu widersprechen gewagt hätte. Und wo war jetzt alles das, was ich gesehen und gehört hatte? Es war im selben Augenblick, wo dieser Mann bei uns eintrat, wie weggeblasen. Und ich mußte hilflos still dasitzen und mich vor Sigrun und den Eltern von ihm zurechtweisen lassen.
Ich warf einen Blick auf Sigrun, sie schaute ihren Verlobten mit einem Gesicht an, das vor demütiger Bewunderung strahlte. Und ich sah, wie glücklich sie darüber war, daß sich ihr Bräutigam die Mühe gab, mich auf den rechten Weg zu bringen. Sie dachte jetzt genau wie er: alles das, worüber wir miteinander gesprochen hatten, war schädlich und gefährlich. Was er sagte, war nur zu meinem Besten, ich hatte nichts anderes zu tun, als von meinen bösen Wegen abzustehen und zu versuchen, wie alle anderen zu werden.
Ich war ganz niedergeschmettert vor Schmerz. Ach, wie viel lieber wäre ich tot gewesen, als hier zu sitzen und zu erleben, daß Sigrun mich im Stich gelassen hatte!«
Jetzt hob Lottas Zuhörer noch einmal den Kopf.
»Das war doch schön, daß sie keine eigenen Gedanken mehr hatte, sondern nur so dachte wie er,« sagte er. »Gerade das ist ja das Schöne an ihr.«
Lotta Hedman fuhr in ihrer Erzählung fort, ohne seine Bemerkung zu beachten.
»Die Brautleute blieben ziemlich lange bei uns, und sie sprachen natürlich nicht nur mit mir, sondern auch mit meinen Eltern, und alles, was der Bräutigam sagte, klang gut und freundlich, und er wußte seine Worte gut zu setzen. Als er den Kanzelton abgelegt hatte, klang seine Stimme frisch und lustig. Es war nicht schwer zu verstehen, daß Sigrun ihn liebte.
Ich sagte kein Wort, solange der Bräutigam da war; Sigrun sah mich erstaunt an, und schließlich fragte sie mich, ob ich krank sei. Aber ich schüttelte nur den Kopf. Sigrun dachte gewiß nicht anders, als daß ich vor Glückseligkeit nicht sprechen könne.
Ich aber empfand es als eine große Erleichterung, als sie endlich zur Tür hinaus waren. Aber siehe, Sigrun hatte ihre wollenen Handschuhe vergessen, und sie