Der Häuptling hatte von fern zugeschaut. Als ich nicht mehr so eng umdrängt wurde, benützte er dies, um zu mir zu treten und mir zu sagen:
»Ich habe gesagt, daß Old Shatterhand keine Hilfe von mir zu erwarten habe; eins aber will ich ihm doch sagen: Dort in der Ritze der Mauer steckt der Schlüssel, mit welchem die Ketten geöffnet werden können.«
Obwohl ein halbwilder Mensch, konnte er dem Anblicke der Elenden nicht widerstehen; sein gutes Herz trieb ihn, mir die Mitteilung zu machen. Ich hätte den Schlüssel wohl auch ohnedies gefunden, da ich mir sagen konnte, daß man ihn in der Nähe des Ortes, wo die Leute eingesperrt waren, zu suchen habe. Einer half dem andern; in Zeit von noch nicht fünf Minuten waren die Ketten abgenommen und auf einen Haufen geworfen. Nun wollten die Befreiten sofort hinaus, hinauf ins Freie. Ich hatte Mühe, sie zu bewegen, ruhig zu sein. Der Lärm konnte leicht hinauf zu Melton dringen und ihn auf das, was unten geschah, aufmerksam machen. Da wir nicht wissen konnten, ob wir uns nicht vielleicht gegen einen Angriff zu verteidigen haben würden, ordnete ich an, daß die vorgefundenen Werkzeuge, Hämmer und Hauen, als Waffen mitgenommen werden sollten.
Hatten die Leute in den ersten Augenblicken der Freude über ihre Befreiung nicht auf den Häuptling geachtet, so schenkten sie ihm nun ihre Aufmerksamkeit. Sie kannten ihn; sie wußten, daß er der Anführer der Yumas war und welchen Anteil er an dem an ihnen verübten Verbrechen hatte. Sie wollten sich augenblicklich an ihm rächen, und ich hatte Mühe, sie abzuhalten, ihn auf der Stelle zu lynchen. Ich beruhigte sie aber, indem ich ihnen erklärte, daß er mir als Geisel diene und als solcher ihnen von großem Nutzen sein werde.
Wir traten den Weg nach unserer Höhle an. Da wir einzeln hintereinander gehen mußten, war der Zug, den wir bildeten, ziemlich lang; darum wurden alle Lichter angesteckt, welche wir übrig hatten, und dazu einige Schachtlaternen, welche an der Mauer hingen. Natürlich konnten wir des Abgrundes wegen nicht direkt nach der Höhle; wir mußten durch das schon beschriebene Loch erst ins Freie. Als ich als letzter aus demselben gestiegen war, wurde es zugeworfen; dann stiegen wir die Windungen hinab und jenseits des Felsblockes in die Höhle hinauf. Sie war geräumig genug, uns alle zu fassen.
Es war drei oder vier Uhr geworden, also höchste Zeit, uns Meltons zu versichern. Wir hätten uns gegenseitig viel zu sagen und zu fragen gehabt; das mußte aber aufgeschoben werden, denn ehe es hell wurde, mußten wir Almaden verlassen haben. Ich suchte zehn der kräftigsten Männer aus, welche mich und den Mimbrenjo begleiten sollten; den Zurückbleibenden schärfte ich ein, die Höhle ja nicht etwa zu verlassen, da dies zu unserer Entdeckung führen könne. Sie gaben mir ihr Wort, die Warnung zu befolgen. In Beziehung auf den Häuptling hatte ich keine Sorge; ich war überzeugt, daß er Wort halten werde. Und selbst für den Fall, daß ihm ein Fluchtversuch in den Sinn kommen sollte, konnte ich sicher sein, daß diejenigen, welche ihn in der Höhle in ihrer Mitte hatten, ihn lieber ermorden als entkommen lassen würden.
Den Aufstieg nach dem Plateau brauchte ich nicht zu suchen; jeder der zehn Männer, welche mich begleiteten, kannte ihn, da sie auf demselben hinaufgeschafft worden waren. Wir gelangten ganz gut hinauf. In Beziehung auf die oben befindlichen Wächter waren wir zu keiner besondern Vorsicht angehalten; sie konnten uns immerhin kommen hören, da mit Sicherheit anzunehmen war, daß sie uns gewiß für Freunde halten würden.
Das Schachthaus hatte neben der Tür- noch einige Fensteröffnungen. Durch dieselben drang uns ein Lichtschein entgegen; das war mir lieb, da wir da sehen konnten, wohin wir zu greifen hatten. Wir gingen gerade und mit lauten Schritten auf das Haus zu und drangen so schnell wie möglich alle in dasselbe ein. Die drei Indianer, welche da faul auf der Erde gelegen hatten, sprangen auf, wurden aber, ehe sie zur Gegenwehr schreiten konnten, wieder niedergerissen und mit ihren eigenen Gürteln gebunden. Jeder bekam einen Knebel in den Mund, damit sie nicht laut werden konnten. Sie wurden hinausgeschafft und so entfernt vor dem Hause niedergelegt, daß man sie von demselben aus nicht sehen konnte. Die zehn mußten sich bei ihnen niedersetzen. Diese Veranstaltung traf ich mit Rücksicht auf Melton, welcher nicht sofort sehen sollte, wie die Angelegenheit stand.
Um ihn festzunehmen, glaubte ich, keiner Hilfe zu bedürfen, doch nahm ich für alle Fälle den kleinen Mimbrenjo mit, auf den ich mich in solcher Lage mehr verlassen konnte, als auf die zehn weißen Begleiter alle miteinander, da diese in den Vorkommnissen des wilden Lebens unerfahren waren.
In dem Schachthause gab es auch einige kleine Laternen. Ich zündete eine davon an und befestigte sie am Knopfloche der Weste. So konnte ich sie mit der Jacke nach Belieben verdecken. Ich hatte erwartet, hier oben im Hause das Göpelwerk zu sehen; das war aber nicht der Fall; es mußte sich also unten befinden, weshalb, darüber brauchte ich mir den Kopf nicht zu zerbrechen. Die Leiter ragte mit einigen Sprossen aus dem Mundloche hervor. Ich stieg hinein, und der Mimbrenjo folgte mir.
Das Loch war viel weiter als unten in der Tiefe. Es konnten hier auch größere Gegenstände heruntergeschafft werden. Als die Leiter zu Ende ging, befanden wir uns in einer viereckigen Erweiterung des Schachtes. Hier stand der Göpel über dem weiter abwärts führenden Loche. Er war durch ein Schwungrad in Bewegung zu setzen, und eine Welle von riesigem Durchmesser nahm die Kette auf. Der Förderkasten hing noch oben. Drei Wände des Raumes waren mit allerlei hier brauchbaren Gegenständen behangen; in der vierten befand sich eine breite Öffnung; das war die Mündung des Ganges, den wir suchten. Wir horchten hinein; es war alles still in demselben; also stiegen wir ein und gingen mit leisen Schritten vorwärts.
Ich deckte die Laterne zu und ließ nur von Zeit zu Zeit einen Lichtstrahl auf die Strecke vor uns fallen. Der Gang war lang; er schien kein Ende nehmen zu wollen. Endlich sahen wir rechts eine Tür und links eine zweite; beide waren mit Matten verhangen. Man schien zu schlafen; aber darin hatte ich mich geirrt, denn als wir einige Schritte weitergegangen waren, hörte ich sprechen. Vor uns befanden sich zwei nahe aneinander liegende Türen; die Stimmen ertönten hinter der zur linken Hand, also aus Meltons Wohnung. Wir traten unhörbar heran, und ich zog die Decke, welche da hing, ein klein wenig zurück. Drin brannte eine Kerze, welche mir erlaubte, den ganzen Raum zu überblicken. Er war ziemlich groß. Ein aus Decken bestehendes Lager befand sich links in der Ecke. In der Mitte stand ein roh gearbeiteter Tisch, auf welchem zwei Revolver und ein Messer lagen; außerdem befanden sich da einige aus Aststücken zusammengenagelte Stühle oder vielmehr Schemel. An der Wand rechts hingen zwei Gewehre, daneben eine ziemlich große Ledertasche, welche sehr wahrscheinlich Patronen enthielt. Melton saß hinter dem Tische auf einem Schemel und sprach mit einer Indianerin, welche das Urbild menschlicher Häßlichkeit war; sie stand zwischen der Tür und dem Tische. Eben als mein erster Blick in die Stube fiel, sagte er, indem er sich des schon oft erwähnten Sprachengemisches bediente:
»Sie tut euch beiden wohl leid, da du dich so sehr darnach erkundigst, was ich mit ihr machen werde?«
»Leid Tun?« antwortete sie mit schnarrender Stimme. »Wir freuen uns! Sie konnte uns nicht leiden und wir sie auch nicht.«
Jedenfalls war von Judith die Rede.
»So wird es euch noch mehr freuen, wenn ich dir sage, daß sie nie wieder