Elbland. Elmar Zinke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elmar Zinke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742749512
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„Er ließ sich nichts anmerken. Oder doch? Keine Ahnung.“

      „Dahinter steckt womöglich ein Angriff auf unsere Forschung, Ihre im Speziellen. Manchen Leuten schmeckt offenbar Ihr Drang zur lückenlosen Darstellung dieses historischen Experimentes nicht.“

      „Die Republik Elbland stellte sich mit ihren tiefgreifenden Veränderungen gegen die Ordnung im Allgemeinen. Es war ein Angriff auf die bestehenden Verhältnisse, wenngleich bestückt mit Schwächen, Fehlern, Widersprüchen. Wem passt die Geschichtsschreibung nicht in den Kram?“

      Richter gebar ein unwissendes Lächeln, sagte: „Ihnen steht freilich das Recht zu, Einspruch zu erheben“.

      „Der Einspruch setzt die Kündigung bis zur Urteilsfindung nicht außer Kraft, zudem übe ich meinen Dienst nur im Einvernehmen mit den Verantwortungsträgern aus.“

      „Ich verstehe Sie und handelte nach den gleichen Grundsätzen“, pflichtete ihm Richter bei. „In allem tröstet mich der Umstand, dass sich Ihnen gewiss ein Füllhorn beruflicher Möglichkeiten bietet. Vielleicht macht Ihnen der Baron ein Angebot als eine Art Öffentlichkeitsverantwortlicher seines Hauses. An den Finanzen scheitert ein solches Amt sicher nicht. Oder der Elblandbote stellt Sie als Redakteur ein. Zum Herausgeber des Blattes pflegen Sie bekanntlich ein freundschaftliches Verhältnis.“

      „Freilich, jedes Ende birgt die Chance des Neubeginns“, überkam es Wagner beherrscht. „Überdies befolgte meine Familie schon immer den Grundsatz, jede Arbeit ist besser als keine Arbeit. Mein Vater arbeitete nach der Einheit Deutschlands als Handelsvertreter für Baumaterialien, obwohl er das Diplom als Bauingenieur erwarb und zu DDR-Zeiten dem städtischen Bauamt vorstand. Meine Mutter leitete früher das hiesige Interhotel, das beste Haus am Platze. Nach der Wende machte sie sich mit einer Mittagessenversorgung zu kleinen Preisen selbständig.“

      „Führen Ihre Eltern nicht einen landwirtschaftlichen Betrieb?“

      „Das stimmt. Aber bis meinem Vater der Besitz seiner Eltern übertragen wurde, verstrichen lange Jahre… Also, wenn nichts fruchtet, Arbeit fällt auf unserem Bauernhof immer mehr als genug an. Der Gesellschaft falle ich niemals zur Last.“

      Richter wirkte nachdenklich, unterbreite Wagner seinen Vorschlag zögerlich: „So Sie Ihrer bisherigen Forschungsarbeit die Treue halten, nutzen Sie doch gern weiter unser Archiv. Was im Übrigen keinen Rechtsbruch beinhaltet. Sie unterliegen keinem strikten Hausverbot und das Archiv steht jedem Bürger offen.“

      Wagner führte nachdenklich das erste Mal seine Kaffeetasse zum Mund, fragte: „Was geschieht mit Ariane?“

      „Für sie finden wir eine ebenbürtige Beschäftigung“, versicherte ihm Richter.

      „Mich erfüllt eine inständige Bitte, Herr Professor“, zeigte sich Wagners Stimme geradezu flehentlich: „Ich versprach Feldmann, dem Fahrer des Barons, dass Ariane sich während der Dienstzeit um seine schwer kranke Frau kümmert. Feldmanns Zwischentöne klangen eindeutig. Es besteht bei ihr Suizidgefahr. Ariane steht dieser Nebenarbeit offen gegenüber. Sie ist ein guter Mensch.“

      „Auch für dieses Anliegen finden wir eine Lösung.“

      Am Schreibtisch überflog Wagner die Termine dieser Woche, den Stapel unerledigter Briefe, die lange Liste offener E-Mails. Was bedeutet ´sofort`?, dachte er vor sich. Heißt das, zehn Jahre enden von einem Augenblick zum anderen? Ein Ende, schlagartig herbeigeführt wie durch einen Verkehrsunfall, einen Blitzschlag, die Patrone aus einer fremden Waffe?

      In den Schreibtischfächern stellte er einen auffälligen Mangel privater Gegenstände fest, in der Hauptsache beschränkte sich das Persönliche auf sieben Modelle von DDR-Fahrzeugen. Wagner strich über einen Miniwartburg Dreihundertdreiundfünfzig und dachte, Sieglinde schenkte mir jedes Jahr zum Geburtstag ein Einzelstück dieser Art. Im Überreichen der ersten Gabe äußerte sie den Wunsch eines gerechten Urteils der Geschichtsschreibung über die DDR. Gerecht nicht zuletzt im Sinne des Verzeihens und Vergebens. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, aber wahrscheinlich blieb ich stumm. Gerechtigkeit in der Geschichtsschreibung, wahrlich, auch ein weites Feld. Aber…

      Wagners Handy meldete sich mit dem Klingelton eines langsamen Walzers. Er sah Mons Namen auf dem Display, glitt über den grünen Punkt.

      „Hallo meine Schöne“, sagte er mit flugs gereifter Turtelstimme.

      „Hallo Liebling“, hörte er ihre helle Stimme in steter Aufregung. „Wir heute Termin. Du mich nicht vergessen.“

      „Ich vergesse Dich nie. Aber vielleicht fällt meine Stimmung heute nicht gut aus.“

      „Welche Laus über Leber laufen?“

      „Ich habe gleich beim Zahnarzt einen Termin.“

      „Zahnarzt. Oh weh. Ich Trost spende mit allem, was habe ich.“

      Um seinen Mund spielte ein unsicheres Lächeln und er dachte, die Notlüge wächst für das Leben als Heilpflanze. Wenngleich sie ausschaut wie eine Missgeburt.

      Der Tag sandte am späten Nachmittag eine angenehme Milde aus. In den Außenbereichen der Boulevardcafés blieb kein Stuhl unbesetzt, die Umrandung des Jungfrauenbrunnens beschlagnahmten zumeist Jugendliche mit schwarzen Jacken aus Kunstleder, dunklen Markenjeans und südländischem Erscheinungsbild. Zwei junge Frauen mittendrin hielten ihre Augen hinter Sonnenbrillen geschlossen, ihre derben Gesichter kanteten sie ins Horizontale. Männliche Anzüglichkeiten durch Worte, Pfiffe und Gejohle straften sie durch Nichtachtung.

      Falters Praxis mit hochmodernen Gerätschaften befand sich unweit des Domplatzes in einem Haus, dessen nüchterne Hässlichkeit im Angesicht der Nachbarschaft nicht auffiel. Trotz eines vollen Wartezimmers rief die Sprechstundenschwester Wagner als nächsten Patienten auf, auch Wagners untätige Liegezeit auf dem Behandlungsstuhl mit anatomisch geformter Sitzfläche hielt sich in Grenzen. Falter bohrte seinem Patienten zur Begrüßung den Zeigefinger in den Oberarm, das Vorgeplänkel beschränkte er auf das Übliche zwischen zwei Männern mit der gemeinsamen Schulzeit als einziges wesentliches Bindeglied.

      Als Falter ein warmes Gemisch aus Wasser und Reinigungssalz in Wagners Gebiss sprühte, fragte er durch seine Mundschutzmaske: „Was meinst Du, wer macht am Sonntag das Rennen?“

      In Anwesenheit der Gerätschaften im Mund brummte Wagner schwer Deutbares. Der Aufforderung zum Wasserspülen kam er mit Erleichterung nach, herauslaufender Speichel nötigte ihn zum mehrmaligen Spucken in das untertassenkleine Edelstahlbecken.

      „Keine Ahnung“, holte Wagner seine Antwort nach.

      Falter polierte mit einer rotierenden Minibürste ausgiebig die Zahnoberflächen, behandelte das Gebiss mit Fluoridlack.

      Mit dem Unterton des Nichtwahrhabenwollens sagte er: „Sag mal, stimmt es, dass Heilmann, der Spitzenkandidat der Deutschalternativen, Dein bester Freund ist?“

      Wagner sandte vermehrt Brummtöne aus, schlitzte die Augen. Das Endausspülen der Mundhöhle beanspruchte zwei Wassergläser, dankbar empfing Wagner eine Handvoll Kosmetiktücher zum Mundabwischen.

      „Marcus Heilmann ist, was kaum einer weiß, Herausgeber des Elblandboten“, wich Wagner der Frage aus. „Maßgeblich ihm verdanke ich, dass mir die Zeitung für mein Schreibbedürfnis im Grunde jeden Platz einräumt.“

      Falter streifte die Maske ab, lächelte schief im Vorgefühl eines kleinen Sieges: „Gut zu wissen. Gerade mit Blick auf diese Personalunion besitzt die Sonntagsfrage, die das Blatt gestern verbreitete, einen bitteren Beigeschmack. Sag das Deinem Freund. Diese Zahlen quasi aus seinem Mund stuft der mündige Bürger als billige Meinungsmasche ein.“

      „Ich sehe ihn frühestens am Wahlsonntag.“

      Im Freien hörte Wagner sechs wuchtige Schläge der Domuhr, atmete die herbe Frische seines Mundgeruches. Erstmalig nahm er Notiz von den jungen Ausländern am Brunnen, die das Frauenpaar im gesitteten Abstand umringten, Handybilder schossen. Das achtlose Vorbeilaufen einer Fußstreife der Polizei stärkte Wagners Glauben einer nicht bedrohlichen Grundstimmung. Am Bratwurststand kaufte er eine Boulette mit Brötchen, zahlte