Elbland. Elmar Zinke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elmar Zinke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742749512
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„Dann schauen wir, was passiert ist.“

      Wagner presste einige Urintropfen in das ausgedörrte Gras, im Anschluss drosselten sie ihr Schrittmaß. Auf der nächstgrößeren Straße strömte Menschengewimmel dem Brandort entgegen.

      Die Grundschule Freiherr-vom-Stein stand über ein Jahr leer. Sie zählte zu den jüngsten Flüchtlingsheimen der Stadt, erst Wochen zuvor bezogen zweiundfünfzig Personen aller Altersgruppen das Backsteingebäude aus dem vorletzten Jahrhundert. Zeitgleich mit der Ankunft des Paares brach ein Teil des Dachstuhles krachend ein, funkensprühende Flammen schossen in den Nachthimmel empor. Auch aus zahlreichen Fenstern schlug das Feuer, explosionsartig zerbarsten Fensterscheiben.

      Wasserstrahlen schossen aus zwei Richtungen in die Hauptbrandstelle Schrägdach. Feuerwehrleute in Schutzanzügen und Gasmasken stapfen durch den Haupteingang, begleiteten zumeist kleinere Kinder mit übergeworfenen Decken ins Freie, einzelne Bewohner kletterten über die lang ausgefahrene Leiter eines Feuerwehrautos in Sicherheit. Inmitten der Rettungskräfte sichtete Wagner den Kameramann des Stadtfernsehens Fred Grabowski und Norbert Schlächter, den Fotografen des

      Elblandboten.

      Mit einem entsetzlichen Schrei stürzte aus dem obersten Stockwerk eine ältere Frau als krummer Schatten in die Tiefe. Sanitäter und Feuerwehrleute eilten zum Unglücksort. Aus der gesplitterten Schädeldecke des Opfers floss Blut zur Lache, der Notarzt bestätigte den Tod der Frau. Grabowski richtete die Kamera in nächster Nähe auf die Unglücksstelle, neben ihm blitzte Schlächters Fotolicht unentwegt auf. In direkter Nachbarschaft führten zwei Polizisten ein zwangloses Gespräch.

      Ohne Gegenwehr durchbrachen Schaulustige die rotweißen Absperrbänder der Polizei, näherten sich unerschrocken der Brandstelle. Aus umliegenden Schattenfenstern wehte vereinzelt die Kreuzflagge in den Farben Schwarz, Gold und Rot, lang gezogene Pfiffe, Gejohle und Händeklatschen ertönten. Aus der dastehenden Menschenmenge hielten zuhauf Handys das einschneidende Ereignis fest, inmitten der Zuschauerschar brach eine junge Frau ohnmächtig zusammen.

      „Bitte fort“, flüsterte Mon.

      Wagner spürte ihr Körperzittern, seine Augen wanderten für letzte Eindrücke über die mystisch anmutenden Lichtgegensätze, im Losgehen umfasste er fürsorglich ihre Schulter.

      „Nun enthüllen Hass und Wahn auch in unserer Stadt ihre Fratze.“

      Wagner löste sich von Mon, suchte nach der bekannten Stimme, deutete im Schein einer aufglühenden Pfeife das Gesicht von Norbert Wunsch. Der vollbärtige Mann mit den gütigen Augen, den breiten Schultern und Fleischerhänden trug sein Hemd und sein Jackett geschlossen. Er stand in Begleitung einer älteren Frau, deren Angst sich in körperlicher Befindlichkeit ausdrückte. Keiner erhob sichtbar Besitzansprüche vom Anderen.

      „Guten Abend, Herr Pfarrer“, sagte Wagner mehr schamhaft als erfreut.

      Wunsch saugte einen Zug aus der Pfeife, streifte Mons Gesicht, sagte betroffen: „Vor uns brennt ein Scheiterhaufen unserer Zeit. Wie im Mittelalter legt hasserfüllte Unwissenheit die Lunte. Und wie der Mob damals der Grausamkeit der Blindgläubigen zujubelte, so tut er es auch heute.“

      „Ist die Brandursache derart eindeutig?“, fragte Wagner bedrückt.

      „Mein Freund, der Polizeichef, den ich gerade sprach, meinte, es handele sich nach menschlichem Ermessen um Brandstiftung. Das Feuer brach zeitgleich an mehreren Stellen aus, zudem griffen die Flammen rasend schnell um sich. Ein deutliches Zeichen für die Verwendung von Brandbeschleunigern.“

      „Sind weitere Opfer zu beklagen?“

      „Den Tod einer Frau haben wir alle live miterlebt. Von weiteren Todesopfern weiß ich nichts. Verletzte mit Sicherheit. Schwerverletzte? Hoffentlich nicht.“

      Wagner spürte Mons heftige Klopfzeichen am Gesäß, sagte: „Wir ziehen uns zurück, Herr Pfarrer.“

      „Beileibe, im Moment bleibt uns nichts weiter übrig“, entfuhr es Wunsch traurig.

      Ankommende und abfahrende Rettungsfahrzeuge passierten unentwegt die Straße. An der nächsten Kreuzung zweigte das Paar ab, die wesentlich längere Wegstrecke zu Mons Wohnung machte den Tatort auffällig rasch unsichtbar, merklich unhörbarer. Niemand begegnete dem Paar, es lief eng umschlungen Arm in Arm. In einer völlig lichterlosen Gasse verharrte Wagner, im Miteinander der Köpfe öffnete Mon willig ihren Mund.

      „Ich weiß, es verstößt gegen Deine Verhaltensregeln“, flüsterte er, strich eine Haarsträhne sanft hinter ihr Ohr. „Aber ich tat es. Mein Innerstes drängte nach außen und nichts leistete Widerstand.“

      Mon beschenkte Wagners Streicheinheiten auf vielfältige Art, sagte: „Ich in Deutschland. Ich sein wie deutsche Frau. Gebe mir Mühe.“

      Dann gehen wir heute nicht zum letzten Mal durch die Straßen meiner Stadt, dachte Wagner und verzahnte seine Finger mit ihren. Auch im Taghellen. Wie ein Paar. Als Paar. Im wortlosen Dahingehen weitete Wagner seinen Traum aus. Vor seinem geistigen Auge radelte er mit ihr den Elbdeich entlang, sie benutzten die Elbfähre hinüber ins Brandenburgische, stillten ihren Liebesdurst in einem urigen Landhotel. Sie unternahmen Tagestouren nach Berlin, Hamburg und an die Mecklenburgische Ostsee, in einem Reisebüro buchten sie gemeinsam eine Reise nach Thailand. Mons leise fluchende Schlüsselbundsuche überführte Wagner in die Wirklichkeit. Ich brauche unbedingt ein Auto, dachte er weiter. Und Mon ein Fahrrad. Sonst entartet die Stadt zu unserem Gefängnis.

      In der Wohnung schaltete Mon nur Flurlicht an. Sie suchte das Bad auf, Wagner seinen vorangegangenen Fensterplatz, der im Halbdunkel lag. Ich sah dieses Feuer, bevor ich wusste, dass es ein Feuer ist, dachte er. Dieses Feuer, es schaute stimmungsvoll aus, herzergreifend. Wie eine kraftvolle Morgendämmerung. Nicht wie ein Todesbringer, ein Weltuntergang.

      Mon kehrte im kurzen, feuerroten Spitzenkleid, hochgestecktem Haar und frisch geschminkten Lippen zurück, ihre Hände umschlossen zwei Weingläser und eine neue Flasche Chateau Bonnet, eine einzelne Kerze sandte das einzige Raumlicht aus. Ergriffen folgte Wagner ihrem andächtigen Handwerk, für eine genauere Sehleistung kniff er die Augen mehrmals zusammen.

      „Komm zu mir, Liebe Anton“, sagte sie.

      Wagner entkorkte die Flasche, schenkte ohne jedes Nachfragen beide Gläser voll, belegte den geräumigen Zweisitzer in liegender Schräglage.

      Mon hob das Glas in eine reglose Körperhaltung, mit etwas Zeitverzögerung tat es Wagner ihr gleich.

      „Du fragst, warum ich habe sooooo viel Zeit für Dich“, öffnete sie sich im feierlichen Ernst. „Ich weiß Antwort. Ich habe Botschaft für Dich. Ich habe nur noch Zeit für Dich. Wir zusammen leben in einer Wohnung. Du genug Geld für uns beide. Du mich heiraten. Ich schenke Kinder Dir. Meine Liebe. Mein Leben ganz.“

      Der Kerzenschein erhellte Wagners gerührtes Dahinstarren und Mons erwartungsvolles Augenfunkeln. Nach einer Schweigeminute sprang sie hoch, umschlang seinen Hals.

      „Du mich nicht lieben?“, entfuhr es ihr ängstlich.

      „Ich liebe Dich. Und Du weißt es auch… Und ich möchte es auch.“

      Mon hastete zu seinen Lippen, umklammerte ihn in einer ungewohnt festen Art.

      „Du alles für mich. Auch mein Beschützer.“

      „Ich will alles für Dich sein. Auch Dein Beschützer. Aber wir sind hier in Sicherheit.“

      „Anton, das Feuer, Mensch tot“, beschwor sie ihn mit weit aufgerissenen Augen. „Im Haus wohnen Menschen von Ausland. Ich auch Ausländer. Ich habe Angst.“

      „Das, was der Pfarrer zur Gehör brachte, dass Hass und Wahn als Flächenbrand um sich greifen, das betrifft nicht Dich“, beschwichtigte er. „Mon, Du bist kein Flüchtling. Mon, Du bist kein Moslem. Mon, Du lebst seit Jahren in diesem Land. Alles spricht für Dich.“

      „Ich sehe aus wie Ausländer. Feuer brennt Angst in mich.“

      „Niemand fügt Dir etwas Böses zu“, sagte er überzeugend.

      Später