Der einzige Schmuck am tristen Haus waren die beidseits des Eingangs aufgestellten, von Elsi liebevoll gepflegten Blumenkisten. Sie hegte diese, obwohl ihr der Vater dauernd zu verstehen gab, dass die für die Pflege aufgewendete Zeit für nützlichere Handreichungen fehle.
Vor der Haustür kauerten die beiden Buben auf dem Boden und weinten bitter. Warum sie denn heulten, wollte Linda erfahren. Max, der etwas aufgewecktere der beiden, erzählte: «Als Müri, die Katzenmutter, am Mausen auf der frisch gemähten Wiese war, hat Vater deren junge Kätzchen im Brunnen ersäuft. Und als Müri stolz mit einer gefangenen Maus zurück zum Hof gekommen ist, fand sie ihre Jungen nicht mehr. Nun streift sie jammernd und miauend durch Hof und Scheune und sucht ihre Kleinen. Vater hat mich und Ruedi nur ausgelacht; kleine Heuler und Weichlinge seien wir.»
«Typisch Albert», dachte Linda, «rücksichtslos und ohne Feingefühl.»
Das Töten von jungen Kätzchen war eine Notwendigkeit, Jahr für Jahr gab es Nachwuchs. Ohne das Töten würde die Katzenschar auf dem Hof zu gross. Da war Linda mit Albert einer Meinung. Doch mit etwas Mitgefühl und Rücksichtnahme auf die noch kleinen Kinder wäre es möglich gewesen, die schwächsten der Katzen zu töten. Aber nicht vor den Augen der Kinder. Aber so war Albert, er schaffte es, die eine Schandtat mit einer anderen zu verbinden und sich dabei köstlich zu amüsieren.
«Kommt mit in die Küche», rief Linda den beiden zu. «Ich giesse einen Tee auf, und dazu gibt es aus der Brotkammer für jeden einen Keks. Die habe ich beim letzten Mal extra für euch gebacken.»
Sie beeilte sich, sodass die beiden rasch wieder draussen am Jäten waren.
Linda war es nicht vergönnt, sich vom mühsamen Aufstieg zu erholen. Der Haushalt durfte nicht ruhen, bald würde Albert mürrisch den Zvieri-Kaffee verlangen. Nie würde er Linda direkt zum Befund der Untersuchung und der medizinischen Kontrolle fragen. Über den Arzt würde er schimpfen und sich unflätig über ihn äussern. Ordinäre Worte über Dr. Baldinger gehörten zu Alberts beliebtem und immer wieder durch neue Kraftausdrücke ergänztem Repertoire.
Der Hass gegen den Doktor lag tief in Alberts Seele. Denn ein Jahr zuvor war es zu einem Streit zwischen den beiden gekommen. Eine Auseinandersetzung, an der der Doktor nicht ganz unschuldig war.
Der junge Arzt, noch ganz ohne Erfahrungen und ohne besonderen Leistungsausweis, Spross einer alteingesessenen Familie, hatte den Ehrgeiz, überall Anerkennung zu finden. Er liess sich in den Gemeinderat wählen. In der Fabrik, die seine Mutter geerbt hatte, nahm er Einsitz im Verwaltungsrat. Selbst sein Vater konnte ihn nicht bremsen, er wollte in der Gemeinde derjenige sein, der in allen Belangen das Sagen hatte. Noch keine dreissig, tanzte die halbe Gemeinde nach seiner Pfeife. Er war schon wohlhabend geboren worden. Seiner Familie wollte er aber beweisen, dass es ihm gelingen würde, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Zeiten das Familienvermögen zu mehren. Seinen Einfluss in der Fabrik und der Gemeinde nutzte er schamlos für seine Zwecke. Keiner traute sich, gegen ihn aufzubegehren. Wer sich als Gemeindebürger gegen ihn als Gemeinderat auflehnte, hatte als Angestellter der einzigen Fabrik im Ort Konsequenzen zu gewärtigen.
Kaum war der junge Herr nach dem Studium als Arzt ins Städtchen zurückgekehrt, war er mit Albert in Streit geraten. Der Familie des Doktors gehörte ein hoch über dem Ort gelegenes, sonniges Grundstück. Dort, dachte der noch ledige Doktor, würde er dereinst für seine eigene Familie eine Villa bauen. Der steile Feldweg, der zum Grundstück führte, hätte als Zufahrt zum Gelände in eine gewundene Strasse ausgebaut werden müssen. Für diese Strasse hätte Albert von seinem eigenen Land etwas abtreten sollen. Zudem wäre ein bestehendes Wegerecht an die neue Nutzung anzupassen gewesen.
Jeder andere wäre mit seinem Anliegen diplomatischer vorgegangen. Anstatt von seinem hohen Ross herunterzusteigen, den Bauern Albert auf seinem Hof aufzusuchen und ihm sein Anliegen auf gleicher Augenhöhe vorzubringen, hatte ihn Baldinger auf die Gemeindekanzlei zitiert. Noch im Stehen war er gleich zur Sache gekommen – ohne lange Vorrede: «Du musst mir für die Zufahrt zu meinem Grundstück etwas von deinem Land verkaufen und das Wegerecht zu meinen Gunsten anpassen. Für das Land zahle ich den Preis, der für Landwirtschaftsland derzeit gehandelt wird. Die Kosten für den Eintrag des neuen Wegerechts teilen wir.»
Hasserfüllt ob so viel Hochmut und Arroganz, hatte Albert zurückgegeben: «Was fällt dir ein, du verdammter, junger Schnösel. Erstens mag ich mich nicht erinnern, dass wir zwei per Du sind. Ich bin älter als du und kenne dich, seit du als dummer Bub in die Hosen gemacht hast. Zweitens kannst du die Sache mit dem Land vergessen, dir verkaufe ich keinen Quadratmeter. Und die grösste Frechheit, die du dir erlaubst, ist die Lächerlichkeit, dass ich mich an den Kosten für ein Wegerecht, das zu deinen Gunsten geändert wird, auch noch beteiligen soll.» Rot im Gesicht, wurde er immer lauter: «Und zu alledem lässt du mich an einem Nachmittag, an dem ich Heu einbringen sollte, hierher ins Gemeindehaus kommen.»
Sein Aufbrausen hatte den in einem Nebenzimmer arbeitenden Gemeindeschreiber aufgeschreckt. Ohne anzuklopfen stürmte er ins Zimmer des Gemeinderats. Dies hatte Albert genutzt, um mit lautem Getöse den Raum und das Gemeindehaus zu verlassen.
Noch nie zuvor hatte sich jemand erlaubt, ihm, dem vielleicht einflussreichsten Mann der Gemeinde, ein Anliegen auszuschlagen und ihm derart unverblümt seine Meinung zu sagen. Aufgrund seiner besonderen Stellung hatte er sich bis dahin immer durchsetzen können. Sein Unverständnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. Zum Gemeindeschreiber sagte er: «Da verhelfe ich dem verschuldeten armen Bauer mit dem Kauf eines kleinen Stückes Ackerland zu etwas Bargeld und muss mir dann gefallen lassen, dass er mir beinahe an die Gurgel springt! Wären Sie, Herr Gemeindeschreiber, nicht dem Geschrei gefolgt, hätte ich um mein Leben fürchten müssen.» Ausser sich vor Empörung, steigerte sich der beleidigte Herr weiter in seinen Ärger hinein. «Ich werde diesen Stoll verklagen wegen all der Drohungen und Beschimpfungen, die er gegen mich als Amtsperson, hier im Zimmer des Gemeinderates, ausgestossen hat.»
Der Gemeindeschreiber versuchte, den Doktor zur Vernunft zu bringen: «Sie sollten eines wissen: Einen Bauern kann man nicht nötigen, den muss man in ein Gespräch verwickeln, übers Wetter reden, fragen, wie es im Stall geht und wie die Aussichten auf die Ernte sind. Erst dann kann man langsam sein Thema anschneiden und versuchen, die Vorteile des Geschäfts aus der Sicht des Bauern zu erklären.» Er kannte seine Leute. Selbst Sohn eines Bauern, waren ihm deren Sorgen und Nöte vertraut. Mit ihnen redete er in deren Sprache.
Der Doktor hingegen war in gutem Hause wohlbehütet aufgewachsen. In seinem Umfeld waren spontane Gemütsausbrüche verpönt und galten als unschicklich.
Der unbelehrbare und rechthaberische, keinen Widerspruch gewohnte Doktor, hatte auf einer Klage gegen Albert beharrt. «Drohung gegen eine Amtsperson», lautete die Anklage. «Und Sie, Herr Gemeindeschreiber, werden als Zeuge vor dem Statthalter antreten», sagte es und verliess das Haus.
Die Macht und den Einfluss des Doktors auf seine eigene Position fürchtend, hatte der Schreiber die Klage gegen Albert verfasst.
Dieser, wütend auf den Doktor und die Gemeinde, hatte nach dem Zusammenstoss den direkten Weg ins «Pöstli» genommen. Dort hatte er seiner Wut freien Lauf gelassen, dort fand er Zuhörer für seine Schimpftiraden. Mit jedem Most, den er zu sich nahm, wurde er lauter und ausfälliger. Je länger der Nachmittag dauerte, umso mehr verlagerten sich seine Anschuldigungen und Beschimpfungen. Vom Doktor auf die Gemeinde, zu deren Bewohner und zu seinen Nachbarn. Später wurden die anderen Wirtshausbesucher zur Zielscheibe seiner unflätigen Anwürfe. Er hatte die Zeit vergessen, war im Pöstli sitzen