Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
Скачать книгу
freuen konnte. Diesen Ort des Rückzugs aus dem Alltag suchte er auch auf, wenn jemand, der ihm nahestand, beerdigt wurde.

      Herbert hasste Beerdigungen, er konnte die heuchlerischen Worte, mit denen Pfarrer und Priester selbst die hinterhältigsten Menschen nach deren Tod nur im besten Licht darstellten, nicht ausstehen. Auch konnte er Trauernde nicht leiden, denen er ansah, dass sie noch am Grab eines Verstorbenen über das nun endlich fällige Erbe nachdachten. Verstorbenen, die Herbert gut gekannt hatte, mit denen er befreundet war, die er zu deren Lebzeiten hoch geachtet hatte, gedachte er lieber in aller Stille in seiner Waldlichtung.

      In der Ruhe des Waldes fand er zu sich selbst. Er liebte die Gerüche, die sich in jeder Jahreszeit neu komponierten. Den Moder der langsam zu Humus zerfallenden Blätter, die vielfältigen Düfte der Blüten. Nicht, dass es im Wald nur friedvoll zugeht, der Kampf ums tägliche Überleben findet auch dort auf brutale Weise statt. Die hohen Bäume nehmen den kleinen – selbst denen, die aus ihrem eigenen Samen gewachsen sind – das zum Leben notwendige Licht. Mit ihren tiefen Wurzeln saugen sie das zum Wachstum der Jungen notwendige Wasser hoch in ihre Blätter. Die Macht der Grossen, der Etablierten wird im Wald schonungslos gelebt. Doch ausgerechnet deren Grösse wird ihnen irgendwann zum Verhängnis. Der eine wird vom Wintersturm, der in den hohen Kronen Widerstand findet, ein anderer von der Motorsäge des Försters gefällt. Dann beginnt das neue Leben der bis dahin Unterdrückten. Die kleinen jungen Bäumchen erhalten Licht und streben zur Höhe. Natur pur, sagte sich Herbert, altes Leben wird ausgelöscht, junges erhält Chancen zum Leben.

      Herbert setzte sich auf einen der Steine. Er nahm die Nässe des Regens nicht war, nicht die Kälte, die durch seine dünne Bekleidung kroch. Mit seinen Gedanken war er woanders. Ungeordnet waren sie; mal weit weg, dann wieder ganz nah. Das Zeitgefühl hatte ihn verlassen, er sass einfach nur da. Zögerlich und zuerst nur halb bewusst, begann er über seine Lage nachzudenken. Wie war es so weit gekommen, dass er sich mit seiner Familie derart zerstritten hatte? Wie weit zurück lagen die Ereignisse, die sein Leben und das seiner Familie in diesem Mass beeinflusst hatten? Wie war es gekommen, dass Hass und Missgunst seine Familie derart vergiften konnten.

      Dies zu ergründen, würde er sehr tief graben und weit zu den Wurzeln seiner Familiengeschichte zurückgehen müssen.

      Wo wurde sein Vater geboren, wie war er aufgewachsen? Wie war das Milieu, in dem seine Mutter aufwuchs und was waren die Gründe ihrer oft tiefen Depressionen?

      Unter der Last des Rucksacks keuchend, musste Linda stehen bleiben. Nur noch wenige Schritte von der Bank entfernt, auf der sie sich gewöhnlich einen kurzen Zwischenhalt gönnte. Immer schneller drehte sich der steinige Weg mit den beidseits hohen Böschungen, die Bäume vor ihren Augen. Zu stolz, als noch nicht fünfunddreissig Jahre zählende Frau an einem Gehstock zum Einkaufen zu gehen, hatte sie nichts, woran sie hätte Halt finden können. Sie zog die heisse Luft ein, die dann geräuschvoll pfeifend aus ihren Lungen strömte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich zu sammeln und schaffte die wenigen Schritte zur Bank doch noch. Den schweren Rucksack stellte sie daneben und setzte sich. Es stand noch eine steile Strecke bis zum Hof vor ihr. Der Hohlweg, von Sommergewittern ausgeschwemmt, mit Geröll übersät, so wie ungepflegte Wege im Jura aussehen. Kaum mit einem Wagen befahrbar, war dieser bachbettartige Weg die kürzeste Verbindung zum Städtchen.

      Das von ihren Bewohnern liebevoll «Städtli» genannte Waldenburg war eigentlich ein Dorf, das seine vor der Neuzeit liegende Wichtigkeit verloren hatte.

      Die Zufahrt zum Hof führte über eine lang ansteigende, kurvige schmale Strasse. Mit Ross und Wagen brachte Albert über diese Zufahrt jeden Tag zwei Mal die Milch zur Sammelstelle.

      Der Fussweg, den Linda zum Gang ins Städtchen und wieder zurück zum Hof benutzte, war auch jener, auf dem ihre Kinder zur Schule gingen. Üblicherweise machte Elsi, das älteste ihrer Kinder, nach der Schule die täglichen Besorgungen. Doch an diesem heissen Sommertag hatte Linda selbst ins Städtchen hinabgehen müssen. Den Besuch beim Doktor konnte ihr niemand abnehmen.

      Die regelmässigen Visiten bei Dr. Baldinger waren Linda zuwider. Sie schämte sich, sich vor dem jungen Arzt zu entblössen. Er horchte jeweils ihre Brust ab, nickte dabei wissend, doch was er dabei feststellte, konnte oder wollte er ihr nicht sagen. Mit den lateinischen Ausdrücken, die sie hörte, wenn er mit seinem Vater sprach, konnte sie nichts anfangen. Ihre schwachen Lungen, das mühsame Atmen, behandelte der Doktor nun seit über drei Jahren. Linderung brachten die Medikamente, die sie erhielt, jeweils nur für eine kurze Zeit. Auch war es für sie rätselhaft, weshalb der alte Doktor sie an den jungen zur Behandlung weitergeben hatte. Nach den Gründen zu fragen, traute sie sich nicht.

      Das schwül-heisse Wetter, das an jenen Sommertagen des Jahres 1927 herrschte, raubte Linda fast den Atem. Auf der Bank sitzend, erholte sie sich langsam. Da blieb ihr Blick an der schroffen, hohen, scheinbar am Berg klebenden Fluh auf der anderen Talseite hängen. Kahl thronte sie fast zweihundert Meter hoch über dem Seitental. Von ihrer Bank aus gesehen schienen die schon vor Jahrhunderten unter der Fluh gebauten Häuschen jeden Augenblick gefährdet. Eines Tages zerdrückt von herabfallenden Felsbrocken oder begraben zu werden von der sich vom Berg lösenden Fluh, schien jederzeit möglich zu sein. Doch war seit Menschengedenken niemand zu Schaden gekommen. Nein, die Fluh diente seit Urzeiten den darunter lebenden Menschen als Schutz vor Unwettern und Feinden.

      Lindas Besuch bei Dr. Baldinger war ausserhalb des vereinbarten halbjährlichen Zyklus’ erfolgt. Zur Atemnot, die ihr in der Sommerhitze die Kehle zuschnürte, waren neue Beschwerden gekommen. Seit acht Wochen waren ihre Monatsblutungen ausgeblieben. Unregelmässige Blutungen hatte sie zwar schon früher gehabt. Doch ihre Befürchtungen bestätigten sich, der Doktor diagnostizierte eine Schwangerschaft. «Sie sind in guten Umständen», hatte er mit besorgtem Gesichtsausdruck gesagt. Mit ihrer Lunge sei das gar nicht gut, und er erwarte grosse Komplikationen. Dass es Schwierigkeiten geben würde, war Linda nach dem Befund augenblicklich bewusst. Nur dachte sie nicht an dieselben wie der Doktor.

      «Wie bringe ich Albert meinen Zustand bei? Wann wird der beste Zeitpunkt sein, ihm zu sagen, dass ich ein Kind erwarte?» Linda kannte ihren Mann zu gut; so sicher, wie es vom Kirchturm zwölf schlägt, würde er sie beschimpfen, schlagen, gar treten. Schon im Voraus wusste sie, was er ihr entgegenschleudern würde. Er würde vor Wut schäumen und ihr vorhalten, dass er schon ohne einen zusätzlichen Balg nicht wisse, wie er seine Schulden bezahlen solle. Und dass sie, mit einem Kind im Bauch, nicht mehr wie sonst im Stall und auf den Feldern werde mitarbeiten können.

      Linda seufzte beim Gedanken, dass es auch sein Kind war und er schliesslich der Vater sei. Dass er sich oft, mitten in der Nacht, ohne sie zu wecken, auf sie legte und in sie drängte und sich dann wortlos zur Seite rollte, um schnarchend in einen Tiefschlaf zu fallen. «Wie eine Kuh komme ich mir dann vor», dachte sie. «Nur – bei einer Kuh freut er sich, wenn diese trächtig wird, das gibt ein Kalb, das gibt Geld, das ist erwünscht.»

      Linda beschloss, Albert noch nicht über ihren Zustand aufzuklären. Sie würde abwarten, bis sie nur mit Elsi und Albert in der Küche war. Dann, wenn die beiden Zwillinge noch in der Schule oder sonst irgendwo draussen waren. Vor Elsi mässigte sich Albert mit seinen groben Ausbrüchen. Wenn Albert sie schlagen wollte, trat die Tochter jeweils schützend vor die Mutter. Elsi, die älteste Tochter, war ein mutiges Mädchen. Mit ihrem forschen Auftreten hatte sie sich Respekt verschafft und ergriff, je länger, umso bestimmter, wortreich Partei für die Mutter.

      Wie nach jedem seiner Wutausbrüche würde Albert sich für einige Tage im Stall und in der Scheune verkriechen, kurz zum Essen an den Tisch kommen, um sich dann zum Mittagsschlaf auf den Heustock zu verziehen. Tagelang würde er wie ein räudiger Hund umherschleichen. Bei günstiger Gelegenheit würde er Elsi über die Ergebnisse der Untersuchungen beim Doktor und über den Zustand der Mutter ausfragen, um dann bis zum nächsten Wutausbruch still, mürrisch und in sich gekehrt seiner Arbeit nachzugehen.

      Linda erhob sich, schnallte den mit Mehl, Zucker und Hefe beladenen Rucksack an und stieg langsam weiter den karstigen Weg hoch. Noch nicht in Sichtweite des im Schatten des Hügels gelegenen Hofes kam ihr auch schon Schäfli, der Hofhund, entgegen. Er umkreiste und begrüsste sie