Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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Erzählungen, dass Leute wegen ihres Glaubens hatten fliehen müssen. Fliehen aus ihrer Heimat, Hab und Gut zurücklassend. Die Nachrichten aus dem nahen Deutschland beschäftigten jeden, doch selbst erlebte Schilderungen, wie die von Verfolgten, hinterliessen einen tieferen Eindruck als Nachrichten aus Radio und Zeitungen. Der Nachmittag verging mit Gesprächen über ihre Familie und politischen Diskussionen. So bedrohlich wie sein Schwager hatte Max die politische Lage nie empfunden. Sein Wissen beschränkte sich auf die hin und wieder gehörten Nachrichten von Radio Hilversum und die Kommentare des Predigers. Seine Erfahrungen mit den geflohenen Glaubensbrüdern hatte er nicht in die allgemeine politische Lage einordnen können. Erst Peter hatte ihm geholfen, die Augen zu öffnen und künftig Nachrichten und Meldungen richtig einzustufen.

      Erst spät am Abend kehrte Max – ohne Licht – durch die Dunkelheit mit dem Fahrrad zurück in sein neues Zuhause. Niemand hätte damals geahnt, dass nur zwei Jahre später alle Velofahrer ohne Licht oder mit blauer Farbe verdunkelten Lampen unterwegs sein mussten. Max traf Luise noch wach an. Den ganzen Tag hatte sie ihr Wohnzimmer vom sich über Jahre ausgebreiteten Mief befreit. Die dunklen Vorhänge waren weg, stärkere Birnen in den Lampen erzeugten ein helles Licht. Nach langen Jahren der Trauer um ihre Tochter war mit Max neues Leben in ihre Wohnung eingekehrt. Ungläubig stand Max vor ihr, es schien ihm, dass mit seiner Rückkehr der Putzteufel im Haus eingekehrt war. Erst sein Vater, dann Luise; offenbar war es beiden gut bekommen, aus dem gewohnten Trott, der Lethargie des Nichtstuns, der Langeweile der Tage, der Trauer um Vergangenes gerissen zu werden. Luise empfing ihn und sagte: «Max, ich bin so glücklich, dass du bei mir wohnst. Ohne es zu wollen, hast du mir neuen Mut und Lebensfreude gebracht, ich habe zu einem neuen Sinn in meinem Dasein gefunden. Komm, wir feiern.» Sie öffnete eine Flasche Rotwein und schenkte sich und Max ein Glas ein. «Wir müssen behutsam nippen, seit dem Tod meiner Tochter habe ich nie mehr Wein getrunken, und du bist bei den Täufern wohl auch kaum in den Genuss von Alkohol gekommen.»

      Am Montag früh begab sich Max in die Fabrik. Der Portier hatte ihn erwartet und meldete sein Eintreffen telefonisch der Personalabteilung. Er solle sich direkt zur Schmiede begeben, beschied ihm der Portier. Der Schmiedemeister Karrer werde ihn über die in der Fabrik geltenden Gepflogenheiten ins Bild setzen. Durch das Labyrinth der Gebäude ging Max den vom Portier beschriebenen Weg zu seiner neuen Wirkungsstätte. Der Lärm aus dem Gebäude, in dem sich die Schmiede befand, war unüberhörbar. Geschwärzte Aussenmauern, die Fenster blind. Qualmender Rauch drang durch den Schornstein über dem Dach. Ein metallisches Hämmern wies ihm den Weg durch die weit geöffneten Tore. Drinnen vom Russ geschwärzte, pechige Wände, heisse Luft und der ausserhalb des Gebäudes gedämpfte, furchterregende Lärm des Dampfhammers. Ein grosser, kräftiger Mann mit dunkler Brille und Béret-artiger Bedeckung auf dem Kopf kam Max entgegen. «Da bist du also, unser neuer Lehrling. Für einen bereits Achtzehnjährigen siehst du schmächtig aus», schrie er durch den Lärm und ging vor Max durch eine Tür ins Innere des Gebäudes. Hier was es etwas weniger laut als in der Schmiede, wo eine Unterhaltung kaum möglich war.

      «Du bist also der Maxli Stoll», begann er, «der Sohn des Dorfsäufers Albert. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht mit deinem Vater streite. Schmieden gibt Durst, und diesen lösche ich am Abend in einem der Lokale, in dem auch dein Vater seine tägliche Ration Schnaps säuft. Streitsüchtig, wie der ist, vergeht kein Tag, an dem er sich nicht mit einem anderen Wirtshausbesucher zankt. Seit ich ihn im Löwen persönlich die Kellertreppe hinuntergeworfen habe, hält er sich mit seinen Flüchen und Anfeindungen gegen mich etwas zurück. Ich sage es dir im Guten, damit du weisst, dich zu benehmen: Tu, was ich dir auftrage, sonst lernst du meine starken Arme und Hände kennen. Wenn ich dich so sehe, scheint es, dass du eher ein Schwächling bist, dir müssen noch Muskeln wachsen.»

      Er erklärte Max, dass er zu Beginn seiner Lehre vorerst leichtere Arbeiten zugeteilt erhalte. Arbeiten, die das Wachstum seiner noch unterentwickelten Muskeln unterstützen würden. Seine Arbeitszeit dauere von Montag bis Freitag von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, unterbrochen von einer Mittagspause von einer Stunde und einer Znünipause von einer halben Stunde. Am Samstag habe er von sieben bis mittags die Schmiede aufzuräumen und zu putzen. Am Nachmittag erhalte er, mit den anderen Lehrlingen der Fabrik, Unterricht in Berufskunde.

      Karrer zeigte ihm den Raum, wo er sich umziehen und waschen konnte und wies ihm den Spind zu, in dem er seine persönlichen Sachen aufbewahren konnte. Dann übergab er ihm ein paar Holzschuhe und eine schwere Schürze aus Leder. So ausgerüstet führte er ihn nach draussen in den Lärm der Schmiede.

      Die leichte Arbeit, von der Karrer gesprochen hatte, bestand im Hochtragen von Säcken mit Holzkohle ins oberste Geschoss. Durch eine trichterförmige Öffnung musste er die Holzkohle in ein Silo schütten. An die fünfzig Säcke trug Max an diesem ersten Morgen als Lehrling die vier Treppen hoch. Nur unterbrochen von der Znünipause. Zusammen mit den beiden anderen Lehrlingen und den fünf Arbeitern sass er auf einer Holzbank hinter der Schmiede. Hungrig und im Stillen Tante Luise dankend, verschlang er das Butterbrot, das sie ihm vor dem Weggehen zugesteckt hatte. Max kannte die beiden anderen Lehrlinge aus der Zeit, als er im Städtchen zur Schule gegangen war. Der eine, im gleichen Alter wie er, war bereits im dritten Lehrjahr, der Zweitjahr-Stift war ein Jahr jünger als er. Der Aufenthalt in Holland hatte ihn zwei Jahre Rückstand zu den Gleichaltrigen gekostet. Zu reden gab es auf der Znünibank nicht viel, der hinter ihnen leerlaufende Dampfhammer dröhnte zu laut, als dass ein Gespräch möglich gewesen wäre.

      Gegen Mittag wurde es plötzlich still. Karrer hatte den Dampfhammer abgestellt. Die Fabriksirene, von der das Signal zur Mittagspause ertönte, hatte Max nicht gehört. Der Oberstift zeigte ihm, wie man mit Sandseife, die sich in einem Behälter über dem Waschtrog befand, die Hände sauber kriegt. Auch sagte er ihm, dass er sein Gesicht nicht zu waschen brauche, denn die von der Schmiede hätten in der Kantine einen eigenen Tisch. In der Tat, in der Kantine, wo über hundert Arbeiterinnen, Arbeiter und Lehrlinge ihr einfaches Mittagessen einnahmen, war ein Tisch für die Schmiedearbeiter bestimmt. Schwarz bemalt, war nicht klar erkennbar, ob der Tisch gereinigt und sauber oder mit Russ verschmutzt war. Er war sauber.

      Die anstrengende Arbeit hatte Max hungrig gemacht, vom kräftigen Eintopf liess er sich zweimal schöpfen. Hier, ohne den Dauerlärm des Schmiedehammers, wollten die neuen Arbeitskollegen ihre Neugierde stillen und stellten Fragen. Wie die Leute in Holland lebten und was diese ässen. Er solle doch einige Worte holländisch reden. Max war zum Mittelpunkt der einfachen Leute geworden. Willig gab er Auskunft und erzählte von dem, was seine Kollegen hören wollten. Fragen zu seiner Tante und den Täufern versuchte er auszuweichen. Karrer machte es gleich klar: «In meiner Schmiede wird nicht gestündelt, und solltest du jemals der Versuchung erliegen und von den Heiligen reden, wirst du meine Fäuste kennenlernen.»

      Max wehrte ab, diese Gefahr bestehe nicht. Während der ganzen Zeit bei seiner Tante habe er sich innerlich gegen die strengen Regeln des altväterischen Glaubens gewehrt. Im Umfeld seiner Tante sei es ihm eine Qual gewesen, standhaft zu bleiben. Dauernd habe er sich verstellen und zum Schein auf die gepredigte Lehre eingehen müssen. Von all dem sei er geheilt. Sein heftiger Ausbruch, die starke Abneigung gegen die Kirche, beeindruckten seine Zuhörer. Diese einfachen Gemüter fühlten, dass der Junge schwere Zeiten hinter sich hatte und zollten ihm Respekt.

      Nach der Mittagspause musste Max die Filtermatten des Rauchfilters ausblasen und waschen. Die klebrige Masse aus Russ, Pech und Wasser brachte er vor dem nach Hause gehen nicht ganz vom Körper. Erst als er aus der Badewanne, in die ihn Luise gesteckt hatte, gestiegen war, fühlte er sich wieder wie ein menschliches Wesen.

      Er verschlang das Essen, das ihm Luise auftischte und sank dann müde auf das Sofa im Wohnzimmer. Erst spät am Abend konnte er ihre Neugier befriedigen und über seinen ersten Arbeitstag berichten. Zu schaffen machte ihm nicht die Schwere der Arbeit, davon konnte man sich erholen und wieder zu Kräften kommen. Vielmehr beschäftigten ihn die Sprüche über seinen Vater, das Stigma, der Sohn eines Säufers und Versagers zu sein. Luise verstand seine Sorge: «Da musst du durch, zeig den Leuten, dass du aus anderem Holz geschnitzt bist! Setze dich durch, bis du deine Ziele erreicht hast. Verschaffe dir Respekt durch ehrliches, fleissiges Arbeiten. Und meide die Wirtshäuser, die Lokale, in denen dein Vater verkehrt. Denn dort wirst du bald in die Streitereien deines Vaters hineingezogen und in den gleichen Topf, in dem er schmort, geworfen