Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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Frau bedankte sich Max für den Tee und das süsse Gebäck, das sie ihm vorsetzte. Bevor er da unten ein Auge zumachen könne, müsse er aufräumen und putzen. In dieser Unordnung und dem Schmutz, der einem Saustall gleiche, könne er nicht schlafen.

      Die alte Frau betrachtete ihn eine Weile stumm und begann dann zu reden: «Max, wir werden künftig im gleichen Haus miteinander leben, dein Vater ist unzuverlässig, ein Säufer und Flegel. Wäre ich nicht auf die Mieteinnahmen angewiesen, wäre dein Vater schon längst aus der Wohnung geflogen. Ich freute mich, als der Gemeindeschreiber deine Rückkehr ankündigte. In diesem Haus gab es seit über dreissig Jahren, als meine kleine Tochter starb, nie mehr junge Menschen. Du musst nicht mit deinem Vater in der stickigen Wohnung leben. Du kannst in die Mansarde, ins ehemalige Zimmer meiner Tochter ziehen. Bei mir kannst du essen, dafür will ich kein Geld. Und ab sofort bin ich für dich Tante Luise.»

      Welch unerwartete Wende! Die Perspektive, ein zwar bescheidenes, aber sauberes und ihm freundlich gesinntes Zuhause zu haben, konnte Max kaum fassen. Er folgte Tante Luise in die Mansarde hinauf. Das Zimmer war schlicht, in lieblichen, über die Jahre verblassten Farben gestrichen. Halt das Zimmer eines jungen Mädchens. Daneben eine Toilette und ein Waschbecken. Luise nahm wortlos die grosse Puppe, die sie drei Jahrzehnte zuvor auf das gemachte Bett gesetzt hatte, an sich. Keine Frage, Max nahm das Angebot, dort zu wohnen, begeistert an.

      Luise machte sich daran, das Bett frisch zu beziehen und schickte Max hinunter, um seine Sachen zu holen. Er habe einen langen Tag hinter sich und brauche jetzt viel Schlaf, bis zum nächsten Tag wolle sie ihn deshalb nicht mehr sehen.

      Max fand den Schlaf nur schwer. Die vielen Eindrücke der langen Reise beschäftigten ihn, der Empfang auf der Gemeinde, wo fremde Leute über seinen Kopf hinweg bestimmt hatten, was er künftig zu tun habe. Ihm graute immer noch vor den Zuständen, die er in Vaters Wohnung angetroffen hatte. Dann dank der «neuen» Tante Luise doch noch die Wende zum Guten. Wie würde sein Vater reagieren, wenn er erführe, dass er oben im Haus unter den Fittichen von Tante Luise lebte? Vor der Begegnung mit seinem Vater fürchtete er sich noch mehr als zuvor. Allmählich fiel er vom Grübeln in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      Er hörte nicht den Streit seines Vaters mit Luise. Volltrunken war er nach Hause gekommen, hatte die geöffneten Fenster und das gespülte Geschirr vorgefunden. Doch keiner war da. Dass sein Sohn an diesem Tag aus Holland zurückkäme, hatte man ihm gesagt. So war es naheliegend, dass dieser sein «Unwesen» in der Wohnung getrieben haben musste. Er ahnte, dass Luise in diese Sache verwickelt war. Laut schimpfend polterte er an ihre Tür und wollte wissen, was da vor sich gehe. Sein Sohn sei oben im Mansardenzimmer, wo er schlafe und künftig auch wohnen werde. Sie könne es dem Jungen nicht antun, in seiner Wohnung, die wie ein Schweinestall aussehe, leben zu müssen. Albert war nicht dumm, sogar in seinem Rausch sah er nur Vorteile, wenn er nicht mit Max zusammenleben musste. Auch er fürchtete sich vor der Begegnung mit seinem Sohn. Als ihm der Gemeindeschreiber mitgeteilt hatte, dass Max mit ihm zusammen wohnen würde, schienen ihm Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Sein Sohn war ihm entfremdet. Als Bub waren er und sein Zwillingsbruder der Mutter zugetan. Nur wenn es um Handreichungen und Mithilfe auf dem Feld oder im Wald ging, waren die beiden mit dem Vater zusammen. Sonst kannten sie ihn nur als aufbrausenden, die Mutter beschimpfenden Grobian. Wie hatte sich sein Sohn unter der Obhut seiner Schwägerin Anna zum jungen Erwachsenen entwickelt? Hatte ihn der Virus der Sekte befallen und war er ein Frömmler geworden? Oder war er durch die spartanische, aufs Notwendige reduzierte Lebensweise der Täufer gestählt und kräftig geworden?

      Beleidigt und weiter schimpfend hatte sich Albert in seine Wohnung zurückgezogen. Die Begegnung von Vater und Sohn sollte am folgenden Tag stattfinden.

      In einem weichen, etwas miefigen alten Sessel sitzend, erzählte der neue Hausbewohner Luise von seiner Zeit in Holland. Sie hatte ihn zum Essen eingeladen und danach aufgefordert, sich im Wohnzimmer mit ihr zu unterhalten. Im grossen, mit alten Möbeln überstellten und dicken Vorhängen verdunkelten Raum brannten Kerzen. In einer Ecke stieg duftender Rauch aus einem Behälter. Eine Wand in Luises Wohnzimmer war von Büchern verdeckt. Nicht wie üblich in einem Gestell stehend, sondern aufgeschichtet zu hohen Türmen, die bei der geringsten Erschütterung zu fallen drohten.

      Erstmals in seinem Leben fühlte sich Max vis-à-vis einer älteren Person auf gleicher Höhe. Luise redete mit ihm wie mit einem Erwachsenen. Sie fragte und fragte nach, wenn sie etwas nicht richtig verstand. Luise gefiel es, sich mit einem jungen Mann, der einiges erlebt hatte, zu unterhalten.

      Eine gute Stunde schon sassen die beiden im Wohnzimmer, als Luise gewahr wurde, dass sich jemand in der unteren Wohnung aufhielt. Der Lärm, den Albert verursachte, schien ihr ungewöhnlich. Nicht laut, nichts Erschreckendes. Möbelstücke wurden verschoben, die Fenster geöffnet und Wasser plätscherte aus dem Hahn.

      In der vergangenen Nacht hatte sich Albert vorgenommen, seine Bleibe aufzuräumen und zu säubern. Vor seinem Sohn wollte er nicht als verelendeter, im Sumpf lebender Vater erscheinen. Ein klein wenig Stolz war ihm nach all den Demütigungen, die er nach Lindas Tod hatte erleiden müssen, geblieben. Er war nach seiner Arbeit auf dem Friedhof, wo er verwelkte Blumen von den Gräbern abgeräumt hatte, auf direktem Weg nach Hause gegangen. Den ganzen Tag hatte er nur Süssmost und Wasser getrunken. Er begann, die in der Wohnung herumliegende Wäsche einzusammeln und die Bettwäsche abzuziehen. Er brachte diese einer Frau, die in einer der hinteren Gassen fremder Leute Wäsche wusch. Er reinigte das am Vortag von Max vorgespülte Geschirr. Aufmerksam auf das Tun wurde Luise, als Albert sein Bett verschob, um den sich darunter angesammelten Schmutz zu kehren.

      «Komm Max, wir gehen gemeinsam nach unten und schauen, was dein Vater treibt», sagte Luise. Langsam stiegen sie die Treppe hinunter. Erst nachdem auf ihr Klopfen an der Wohnungstür kein «Herein» zu hören war, öffnete Luise die Tür. Das Unerwartete war im Gang. Albert putzte die Wohnung! Geistesgegenwärtig fragte Luise, ob er Hilfe benötige. Vorerst blieb Albert stumm, sah zu Luise und bemerkte den hinter ihr stehenden Max. Auch er war erstaunt, seinen Vater beim Putzen zu überraschen. Unbeholfen streckte er ihm die Hand zum Gruss hin. Albert drückte sie und sagte mit zaghaftem Lächeln: «Jetzt gibt es zwei Stoll in Waldenburg. Der eine unten, der andere oben im Haus von Luise. Bestimmt haben wir noch Gelegenheit, über das eine oder andere zu reden.» Und mit einem Anflug von Stolz fügte er bei: «Im Moment ist es ungünstig, ich bin dabei, den seit Monaten verschobenen Frühjahrsputz zu machen.»

      Das war’s. Sogar Luise, sonst nie um einen Spruch verlegen, fand nicht die richtigen Worte. Nur ein «Dann mach das», brachte sie hervor, nahm Max bei der Hand und kehrte zurück ins obere Stockwerk. Max fühlte sich trotz der abstrusen­ Begrüssung erleichtert. Nicht mit seinem Vater in den gleichen vier Wänden, dafür in der angenehmen Gesellschaft der etwas schrulligen Tante Luise leben zu dürfen, liess ihn seine Zukunft rosiger erscheinen als je zuvor.

      Im Schopf hinter Luises Haus hatte sich allerlei Gerümpel angesammelt. Einen alten Brennhafen mit allem, was zum Brennen von Schnaps notwendig war, hatte sie dort nach dem Tod ihres Mannes eingelagert. Überall mit Spinnweben überzogen, lag dort auch dessen altes Velo. Daran erinnerte sich Luise und schickte Max, es hervorzuholen, zu reinigen und fahrtüchtig zu machen. Nach einer gründlichen Reinigung schmierte Max mit im Schopf gefundenem Schmieröl die Kette und pumpte die schlaffen Reifen auf. Alles war in bester Ordnung, einzig das Glühbirnchen der Lampe war defekt.

      Mit diesem Velo fuhr Max am dritten Tag nach seiner Rückkehr ins Nachbardorf. Er suchte das Haus, in dem Elsi mit ihrem Mann lebte. Elsi erkannte ihren Bruder erst auf den zweiten Blick, unerwartet stand er vor ihrer Haustür. Niemand hatte sie über dessen Rückkehr aus Holland informiert. Überwältigt vor Freude, sich nach den langen Jahren der Trennung wieder zu sehen, umarmten sie sich. Ein Jahr zuvor hatte Elsi geheiratet, jetzt trug sie ihren von der Schwangerschaft dicken Bauch stolz vor sich her. Oft hatte sie an Max geschrieben, Tante Anna hatte die Briefe stets ungeöffnet ins Feuer geworfen. Auch direkt an sie adressierte Briefe hatten dasselbe Schicksal erlitten und wurden nie beantwortet. Kontakte zu seiner Familie hätten das Ziel, aus Max ein überzeugtes Mitglied der Täufergemeinschaft zu machen, gestört.

      Den ganzen Nachmittag tauschten sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen der vergangenen Jahre aus. Elsis Mann Peter kam dazu. Hocherfreut, seinen Schwager kennenzulernen und von seinem Leben