Falk war zu erschüttert von der Erzählung Krystinas, dass er zunächst nicht wusste, was er antworten sollte. Es gab nicht so leicht etwas, was ihn aus der Fassung bringen konnte. Doch, dass ein Mensch sich für ihn einsetzte, kam nicht sehr oft vor. Er hatte zu niemandem eine engere Beziehung, auch nicht zu seinem Onkel. Die einzige Person auf der Welt, die er über alles liebte, war seine Schwester Tyra. Und diese hatte er bitter enttäuscht, so dass sie sich von ihm abgewandt hatte.
Friedrich von Chomotau stand unentschlossen vor dem Haus des Gaugrafen. Miro von Louny hatte ihn regelrecht abblitzen lassen. Er spielte seine Macht als Vertreter der böhmischen Krone auf ganzer Linie aus. Am Vormittag war Falks Onkel der Zutritt zum Stadtverlies verwehrt worden. Daraufhin hatte Friedrich versucht, den Gaugrafen dazu zu bewegen, seine unsinnige Hatz auf Falk aufzugeben. Doch war er auf taube Ohren gestoßen. Miro sah das Recht auf seiner Seite. Er empfahl Friedrich, zurück nach Chomotau zu reiten. Doch in seiner Stimme schwang eine versteckte Drohung mit, und Friedrich war davon überzeugt, dass der Gaugraf beim böhmischen König gegen ihn Stimmung machen würde, falls er sich bei Ottokar beschwerte.
Friedrich wandte sich seinem Pferd zu, das er an dem dafür vorgesehenen Ring in der Mauer des Hauses festgebunden hatte. Schweren Herzens stieg er auf und ritt langsam in Richtung des Stadttores. Er musste die Pläne Miros unbedingt vereiteln.
Kapitel 3
Wälder um Vildstejn
November 1209
„Wollt Ihr mir nicht ein wenig von Euch erzählen, Falk?“, fragte Krystina neugierig. Falk empfand die junge Frau als etwas nervig. Er mochte zwar vor dem Gesetz jetzt mit ihr verheiratet sein, doch war das wohl eher ein Umstand, auf den er wenig Einfluss gehabt hatte. Dennoch würde er ihr seinen Schutz anbieten und war auch bereit, sie mit nach Schellenberg zu nehmen. Aber vielleicht konnte er Krystina doch davon überzeugen, sich wieder von ihm zu trennen, wenn sie aus dieser Sache hier heil herauskommen würden. Sie war zwar recht ansehnlich, aber er hatte das Gefühl, dass sie sich von ihm würde nicht allzu viel sagen lassen. Krystina war eine starke Frau, mit einem festen Willen und großem Mut und, wie er zugeben musste, auch mit einem sehr großen Herzen.
„Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, sagte er kurz angebunden. „Spart Euch Euren Atem lieber dafür auf, dass wir vielleicht um unser Leben rennen müssen.“ Falk begann schneller auszuschreiten, so dass die junge Frau Mühe hatte, mitzuhalten.
„Deshalb müsst Ihr ja nicht jetzt schon rennen“, beschwerte sie sich. „Ich höre niemanden, der uns verfolgt.“
„Schweigt!“, rief Falk mit verhaltener Stimme und hielt warnend die Hand hoch.
„Was ist?“, flüsterte Krystina zurück.
„Mir war, als hätte ich etwas im Unterholz knacken hören.“ Angestrengt schaute er in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien. Doch konnte er außer dichtem Gestrüpps nichts erkennen. „Vielleicht war es nur ein Hase“, stellte er fest.
Als wäre dies das Stichwort gewesen, fing Krystinas Magen in diesem Moment so laut an zu knurren, dass es sogar ihr Begleiter hören konnte. Er schaute sie fragend an. Krystina errötete und versuchte die Tatsache, dass sie Hunger hatte, zu überspielen. Sie schritt an Falk vorbei und ging weiter, immer der Sonne Richtung Süden folgend. Als Falk es ihr am Morgen erklärte, begriff sie schnell, wie man sich an der Sonne orientieren konnte, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen.
Falk bekam sie am Ärmel zu fassen. „Wartet!“, raunte er. „Noch ist die Gefahr nicht gebannt. Die Spießgesellen Lounys sind mit Sicherheit noch hinter uns her. Wir müssen versuchen, nach Vildstejn zu kommen. Das liegt zwar nicht direkt auf unserer Route. Aber ich habe dort einen guten Freund, der uns weiterhelfen kann.“
„Ihr glaubt nicht, dass Miro die Jagd aufgegeben hat?“, fragte sie nun ängstlich.
„Nein“, antwortete Falk kurz angebunden. Was sollte er auch große Worte machen. Das würde ihnen nur wertvolle Zeit stehlen.
„Ich habe Hunger“, gab Krystina unvermittelt zu. „Wir hätten etwas aufheben sollen von dem Brot, dass uns Andris gebracht hat.“
„Es hat doch kaum für uns beide gereicht. Es war wichtig, uns genügend zu stärken, bevor wir losgegangen sind.“ Krystina schaute ihn niedergeschlagen an.
„Wenn wir Glück haben“, fuhr er scheinbar ungerührt fort, „und uns keiner vorher erwischt, sind wir in drei, vier Tagen in Vildstejn. Das heißt also, dass wir uns jetzt beeilen sollten, wenn wir noch vor dem Dunkelwerden einen Rastplatz finden wollen. Ich kenne mich hier in der Gegend nicht gut genug aus, um in Finstern den Weg zu finden.“ Damit wandte er sich um, und schritt voran. Krystina blieb also nichts weiter übrig, als ihm zähneknirschend zu folgen.
Die Nacht zuvor hatten sie im Haus der Witwe Maret verbracht. Andris war bei Einbruch der Dämmerung zurückgekommen und hatte ihnen etwas Brot und ein Stückchen Käse mitgebracht, gerade so viel, dass sie den ärgsten Hunger stillen konnten, um bei Kräften zu bleiben. In einer Ecke des einzigen Raumes der Hütte legten sie sich auf einem Haufen Stroh nieder, von dem ihnen Andris versicherte, dass er es erst kürzlich dort aufgeschüttet hatte, da er auch ab und zu hier schlief. Der Junge brachte ihnen auch eine alte Decke, die er, weiß Gott woher, hatte. Doch es war Anfang November und die Nächte bei Temperaturen um die null Grad schon empfindlich kühl. Sie legten sich dicht beieinander auf das Stroh und deckten sich mit der dünnen Decke, die nicht gerade viel von der Kälte abhielt, zu. Der Schlaf übermannte sie trotz der Gefahren, die um sie her lauerten, bald, und es musste bereits gegen morgen sein, als sie erwachten. Schnell rafften sie ihre wenigen Habseligkeiten auf, und schlichen sich zum Ufer des Grabens.
Das kleine Boot lag in der Tat wie erwartet an einem Steg. Sie banden es los und stiegen hinein. Unter der Last der Beiden drohte es zu kentern und sie ruderten vorsichtig ans andere Ufer, in der Hoffnung, dass sie keiner bemerken würde. Doch das Glück war ihnen hold. Die Häscher Miros wähnten sie bereits außerhalb der Stadt. Auf der anderen Seite schlichen sie sich eine Weile durch das Gestrüpp am Ufer entlang, bis sie an den Rand des Waldes gelangten. Noch bevor die Sonne aufgegangen war, hatten sie ein gutes Stück des Weges hinter sich gebracht, und Falk hoffte, dass sie zunächst ihren Verfolgern entkommen waren.
Seit drei Tagen zerrte Falk sie nun schon durch dichte Wälder, die kein Ende zu nehmen schienen. Er kannte sich recht gut aus in der Gegend. Wahrscheinlich hatte er bereits jedem Hirsch und jeder Wildsau hier seinen Gruß entboten. In den Nächten bereiteten sie sich in Kuhlen oder unter Büschen ein Lager. Doch die Kälte schien sich in Krystinas Knochen eingenistet zu haben und sie beschlich das Gefühl, dass sie sich nie wieder würde erwärmen können. Nur einmal hatten sie einen kleinen Weiler passiert. Falk forderte sie auf, sich in einem dichten Gebüsch zu verstecken, dann war er kommentarlos verschwunden. Zuerst glaubte sie, dass er sie hier zurücklassen wollte, und Verzweiflung überkam sie. Nach einer knappen Stunde war Falk allerdings zurückgekommen, unter dem Wams verbarg er einen Laib Brot, einige Äpfel und ein Stück Speck, welches den Stoff des Kleidungsstücks mit seinem Fett durchdrang. Noch nie war ihr eine einfache Speise als so etwas Himmlisches erschienen. Sie wollte gar nicht wissen, woher die Nahrungsmittel kamen. Denn mit Sicherheit hatte sie ihm niemand freiwillig gegeben. Auch förderte er triumphierend einen längeren, zusammengerollten Draht zu Tage. „Damit wir nicht verhungern“, sagte er augenzwinkernd.
Krystina wusste erst nicht, was er meinte, doch dann dämmerte es ihr, dass er damit eine Schlinge legen konnte, um kleinere Tiere zu fangen.