Artig wurden ihre Worte befolgt. Ein winziges Ding konnte nicht allein mit dem Abschnallen der Mappe fertig werden, da half Fräulein Hering scherzend. Ein anderes hatte die Bänder ihres Samtkäppchens so kunstvoll verknotet, daß die junge Lehrerin zehn ganze Minuten und eine Engelsgeduld dazu gebrauchte, um den zusammengezogenen Knoten zu entwirren. Das dicke Ännchen aber purzelte bei dem Versuch, möglichst leise auf den Zehenspitzen zu gehen, über ihre eigenen kurzen Beinchen, schlug sich das Knie auf und brach in ein jämmerliches Wehgeheul aus. Jetzt mußte Fräulein Hering streicheln, trösten und mit kaltem Wasser kühlen.
»Wie heißt du denn, mein Herzchen?« fragte sie den heulenden kleinen Pausback, denn sie hatte natürlich nicht gleich die fünfzig Namen von dem einen Tage her behalten können.
»Pummelchen«, weinte es weiter, denn so wurde Ännchen wegen ihres kugligen Aussehens daheim gerufen.
Nachdem das laute Schluchzen von Pummelchen endlich gedämpfter geworden, konnte sich das vielgeplagte Fräulein wieder mit den anderen Schülerinnen befassen.
»Du, Kleine, lege die Kreide aus der Hand und setze dich auf deinen Platz«, wandte sie sich nun an die kleine Malkünstlerin, die noch immer neben der Tafel stand. Die aber schob die Unterlippe vor und schien recht wenig von diesem Vorschlag erbaut.
»Ich male doch gerade solchen feinen Garten mit einer Laube drin«, sagte sie weinerlich.
»Wir malen nachher alle, aber im Heft, richtig mit Tinte«, vertröstete sie Fräulein Hering. Dieses Versprechen erschien so überwältigend schön, daß die kleine Malerin mit strahlenden Augen gehorchte. Denn Tinte hatten die meisten Kinder bisher niemals anfassen dürfen.
Jetzt entdeckte Fräulein Hering auch endlich, daß ihr Platz auf dem Katheder bereits besetzt war.
»Nanu, Annemie,« verwunderte sie sich, der Name war ihr noch in Erinnerung geblieben, »was hast du denn da oben zu suchen, willst du etwa statt meiner Unterricht geben?«
»Nee,« lachte die Kleine unbefangen, denn seit gestern hatte sie ein großes Zutrauen zu der jungen Lehrerin, »aber die Aussicht ist hier oben viel feiner!«
Die schüchterne Margot hatte sich sofort mit blutrotem Gesicht vom Katheder heruntergeschlichen, während Doktor Brauns Nesthäkchen ganz vergnüglich weiter dort oben thronte und sogar mit den Beinchen baumelte.
»Ja, Annemie, aber dann habe ich doch keinen Platz«, sagte Fräulein Hering belustigt.
»Och, wir stellen einfach noch einen Stuhl rauf, wir können hier alle beide sitzen.« Klein-Annemarie war selten um einen Ausweg verlegen.
»Nein, Annemie, hier oben haben Kinder nichts zu suchen, der Kathederplatz ist nur für die Lehrerin da«, sagte Fräulein Hering jetzt in so bestimmtem Tone, daß die Kleine sie ganz erschrocken anschaute.
»Bin ich unartig gewesen, Tante Fräulein Hering?« Annemarie fragte es mit herabgezogenen Mundwinkeln.
»Nein, du bist ja jetzt gewiß brav und setzt dich auf deinen Platz; du wolltest doch auch so gern neben deiner kleinen Freundin sitzen«, beruhigte sie Fräulein Hering.
Richtig – sie mußte ja neben Margot sitzen, sonst heulte die am Ende wieder. Ohne Widerrede räumte jetzt Klein-Annemarie der Lehrerin das Katheder.
Nun sollte endlich der Schulunterricht beginnen. Aber ehe Fräulein noch »Lesefibeln herausnehmen« kommandieren konnte, kommandierte die Schulglocke »klinglinglinglingling« – und die erste Stunde war vorüber.
»Nehmt euer Frühstück und geht zu zweien auf den Hof hinunter, jetzt ist Pause«, gebot Fräulein Hering und ließ die Kinder paarweise antreten.
Da stand Hilde Rabe, die kecke, kleine Hilde, neben Annemarie und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Komm, ich geh' mit dir«, sagte sie und wollte sie mit fortziehen.
»Nee, das geht nicht,« meinte Klein-Annemarie unschlüssig, »ich muß mit Margot gehen, weil die doch aus meiner Heimat ist. Und Fräulein hat auch eben gesagt, Margot sei meine kleine Freundin, und die muß doch das wissen.«
»Wir können ja alle drei zusammen spielen«, fiel Margot bescheiden ein, der es leid tat, daß Hilde abgewiesen wurde.
Da ärmelte Hilde Annemarie links unter, und diese schlang ihren rechten Arm um die kleine Nachbarin. So zogen sie höchst vergnüglich los, an Fräulein Hering vorüber. Die hob den Zeigefinger: »Ei, da können welche noch nicht bis zwei zählen«, aber sie ließ die drei Kleinen durchschlüpfen.
Unten im Hof war's wundervoll. Soviel Kinder – Kinder, wohin man auch blickte. Da merkte man gar nicht, daß die Bäume noch kahl waren, daß die Büsche kaum ihre Knospenaugen aufgeschlagen hatten, daß die Vöglein noch keine Lieder sangen. Das knospete und blühte ja von vielen hundert kleinen Mädchenblümchen, das zwitscherte und jubilierte aus kirschroten Schnäbelchen noch viel lustiger als die Vöglein im Lenz.
Die Großen spazierten, in langer Reihe eingehakt, kichernd und schwatzend auf dem Hofe herum. Die Kleinen tollten und spielten Kreisspiele. Auch die ganz Kleinen, die eben erst eingeschult waren, schienen hier nicht blöde. Die meisten beteiligten sich am Spiel, das eine Lehrerin leitete. Nur Ilschen fand es schöner, den Papierkasten mit dem fettigen Butterbrotpapier zu durchstöbern, und Marlenchen war nicht vom Brunnen fortzubekommen. Der quietschte so herrlich, wenn man ihn in Bewegung setzte, und bespritzte einen noch überdies von oben bis unten.
Annemarie war selig unter den vielen fröhlichen Kindern; vor lauter Freude vergaß sie es ganz, ihr Frühstück zu verzehren.
Da aber mitten in das schöne Spiel »Faules Ei« klang unerbittlich die Schulglocke »klinglinglinglingling«, die wieder zur Pflicht und Arbeit rief. Der Hof leerte sich, auch die zehnte Klasse tappelte die Treppe hinauf.
Annemarie fand es im Hof bei weitem hübscher als oben in der Klasse.
»Du, Margot, wir bleiben lieber unten,« sagte sie zu ihrer neuen Freundin, »wir können ja allein auch ganz schön spielen.«
»Aber wenn Fräulein Hering böse ist?« gab die verständigere Margot zu bedenken.
»Wenn wir hier artig spielen und keinen Radau machen, ist sie ganz sicher nicht böse«, entgegnete Nesthäkchen mit Überzeugung.
Margot zögerte noch, aber als Annemarie jetzt ihre Ärmchen um sie schlang und bat: »Bitte, bitte, spiele doch mit mir, du sollst doch meine beste Freundin sein!« waren ihre Bedenken besiegt. Sie war ja so glücklich, eine kleine Freundin zu haben.
Noch zwei hatten dem Rufe der Schulglocke nicht Folge geleistet, das waren Ilschen und Marlenchen. Die eine war immer noch nicht mit der Durchsicht des Papierkastens zu Ende gekommen, und die andere konnte sich von dem quietschenden Brunnen nicht trennen.
Fräulein Hering sah natürlich sogleich, daß noch einige Plätze leer waren. Sie trat zum Fenster und schaute in den Hof hinab. Da erblickte sie die vier Kleinen, die ganz gemütlich die Schulstunde schwänzten.
Sie öffnete das Fenster.
»Kinder,« rief sie hinunter, »kommt herauf, jetzt ist Stunde!«
Margot ließ ihre beste Freundin im Stich und lief, was sie nur konnte; auch Ilschen und Marlenchen nahmen schweren Herzens von Papierkorb und Brunnen Abschied. Nur Klein-Annemarie hopste weiter auf einem Bein.
»Ach, Tante Fräulein Hering, ich spiele gerade so schön ›Himmelhops‹«, klang es fröhlich zurück.
»Jetzt ist aber Schulstunde, nachher in der Pause kannst du weiterspielen,« rief Fräulein wieder.
»Och, das dauert mir zu lange.« Klein-Annemarie hopste unbekümmert weiter auf einem Bein.
»Komm jetzt herauf, Annemie«, ertönte es vom Fenster noch einmal ernster hinab.
»Mutti sagt, in der frischen Luft sein, ist tausendmal gesünder, als im Zimmer hocken«,