Auch Annemarie beteiligte sich, aber die beiden Zettel blieben verschwunden.
Es half nichts, Fräulein mußte zu Thielens hinübergehen und um Margots Stundenplan und Bücherzettel bitten, um sie für Annemarie abzuschreiben.
»Darf ich mit, bitte, bitte, liebes Fräulein!« flehte Annemarie und hing sich zärtlich an ihren Arm. Die Locken wurden noch mal gebürstet, die Hände einer Musterung unterzogen, und dann klingelten Fräulein und Nesthäkchen an der auf demselben Treppenflur gelegenen Thielenschen Wohnung.
Als das Mädchen öffnete, brachte Fräulein ihr Anliegen vor, während Nesthäkchen ihre Blicke in alle Ecken des Korridors schweifen ließ. Doch soviel sie auch guckte, Margot kam nicht zum Vorschein.
Aber als das Mädchen jetzt mit den gewünschten Zetteln zurückkehrte, da schob sich ein braunes Köpfchen mit braunem Zöpfchen hinter ihr neugierig durch die Türspalte.
»Guten Tag, Margot!« rief Annemarie selig.
Nicht weniger erfreut streckte Margot ihrem kleinen Besuch die Hand hin und knickste errötend vor Fräulein. Als Fräulein sich mit Nesthäkchen wieder verabschieden wollte, überwand Margot jedoch ihre Schüchternheit.
»Darf – darf die Kleine nicht noch ein bißchen bei mir bleiben und mit mir spielen?« fragte sie stotternd vor Verlegenheit.
»Au ja – au fein!« jubelte Annemarie los und wußte gar nicht, daß es ein fremder Korridor war, in dem sie vor Freude herumhopste.
»Erlaubt denn das deine Mama, Margot?« fragte Fräulein zögernd.
»Ja, Muttchen hat eben noch gesagt, mit der Kleinen von Doktors darf ich spielen«, beteuerte die kleine Braunhaarige.
»Nicht wahr, du erlaubst es auch, Fräulein?« Nesthäkchens Blauaugen vereinigten sich mit Margots braunen zur flehentlichen Bitte.
Da konnte das gute Fräulein nicht widerstehen.
Sie ging allein Annemaries Schulbücher besorgen, und diese folgte Margot herzklopfend vor Freude in das Kinderzimmer, zu dem sie schon so oft ihre Blicke sehnsüchtig auf Besuch geschickt hatte.
Dort gab es zwei kleine Blondköpfe, die Annemarie bereits vom Fenster her kannte: Bubi und Baby. Der vierjährige Bubi thronte auf dem Schaukelpferd und ließ sich in seinen Reitkünsten durch den Besuch in keiner Weise stören. Baby aber, ein süßes, kleines Mädelchen von zwei Jahren, kam Annemarie sofort mit zärtlich ausgebreiteten Ärmchen entgegengetappelt.
Ach, das war ja ein noch viel schöneres Spielzeug als Puppe Gerda. Annemarie war von dem lebendigen Püppchen ganz begeistert, sie vergaß sogar Margot, zu der sie doch zu Besuch gekommen, über das possierliche kleine Ding.
»Was wollen wir denn spielen?« brachte sich diese schließlich schüchtern wieder in Erinnerung.
»Gnädige Frau«, schlug Annemarie vor; »Baby ist mein Kind, und wir bauen uns unsere Wohnung hier am Fenster. Und du kannst unser Fräulein sein oder auch die Hanne, dann kochst du uns Mittagbrot.«
Margot fand es lustiger, »Hanne« vorzustellen, und sogar Bubi kam von seinem Gaul herab, um sich zu beteiligen. Er durfte Puck sein und mußte auf allen vieren im Zimmer herumkriechen und dazu bellen. Das tat er mit solchem Geschick und so viel Kraftanstrengung, daß alsbald Frau Thielen auf der Schwelle erschien, weil der Lärm nicht auszuhalten war.
Sie machte dem kunstgerechten Hundegebell schnell ein Ende und begrüßte den kleinen Gast freundlich.
»Also du bist Doktor Brauns Nesthäkchen; na, halte nur gute Freundschaft mit unserer Margot. Und nun spielt lieber Bilderlotto, Kinder, das ist weniger geräuschvoll; Margot setzt etwas aus ihrer Schultüte als Gewinn aus.«
Jubelnd wurde dieser Vorschlag angenommen. Auch Bubi kannte schon die Bilder und konnte mitspielen. Als Fräulein um halb sieben Uhr erschien, um Nesthäkchen abzuholen, glaubte dieses, sie hätten eben erst angefangen zu spielen. So schnell war die Zeit vergangen.
»Auf Wiedersehen morgen in der Schule, Margot; wirst du wieder heulen?« erkundigte sich Annemarie noch draußen im Korridor.
Aber Margot schüttelte das Köpfchen. Nein, jetzt mit Annemarie zusammen hatte sie gar keine Angst mehr.
Fräulein hatte inzwischen Annemaries neue Schulbücher mit seinem, dunkelblauem Papierkleid versehen und weiße Etikette mit dem Namen draufgeklebt.
»Wie die Soldaten sehen sie in ihrer blauen Uniform aus!« begeisterte sich Nesthäkchen.
»Nun sorge aber dafür, Annemie, daß alle Bücher und Hefte so schön sauber und ordentlich bleiben«, mahnte Fräulein.
Das versprach die Kleine auch, aber ihre Gedanken waren nicht recht dabei. Die wanderten bereits zu der roten Schultüte hin, die sie vorsorglich im Puppenwagen versteckt hatte. Sicherlich – sie hatte noch viel mehr drin als Margot in ihrer grünen!
Doch als Annemarie jetzt ihre rote Tüte hervorzog und liebevoll hineinäugte, wurde ihr Gesichtchen lang und länger.
»Fräulein, es ist alles raus, kein Stück ist mehr drin; ach, wer mag das bloß gewesen sein?« Bitterlich flössen die Tränen.
Auch die kleinen Schultüten der Puppen, die Annemarie sofort einer Untersuchung unterzog, waren sämtlich geräubert.
Nur die Puppen wußten, daß der Dieb ein krausköpfiger Sextaner mit braunen Augen war, der sich dafür rächen wollte, daß Annemarie ihn nicht selbst etwas aus ihrer Tüte hatte aussuchen lassen. Die wußten auch, wo Nesthäkchens vermißter Stundenplan und der Bücherzettel hingekommen waren. Der Stundenplan prangte als Dreimaster auf dem Kopfe des Herrn Leutnants, und den Bücherzettel hielt Puppe Gerda zierlich zusammengedreht als Schultüte in der Hand.
Aber die Puppen schwiegen alle, keine verriet ein Sterbenswörtchen.
3. Kapitel
Nesthäkchens erste Freundin
Guten Morgen, Kinder.« Fräulein Hering betrat die zehnte Klasse, in der es gar lustig wie in einem Bienenhause durcheinanderschwirrte.
Kein Kind saß auf seinem Platz, alles lief umher, teilweise sogar noch in Hut und Mäntelchen. Denn die Fräulein und Kindermädchen durften ihren Schützlingen nur am ersten Tage bis zur Klasse das Geleit geben. Heute sollten sich die Kleinen schon allein ausziehen, und das schwere Kunststück hatte nicht jede fertig bekommen.
Hier zeigten sich zwei ihre bunten, gestern erhaltenen Schultüten, dort versuchten ein paar Wildfänge, ob der Schultisch wohl zu hoch wäre, um davon herunterzuspringen. Ein Kind malte voll Feuereifer Häuser und Püppchen an die große, schwarze Schultafel. Hilde spielte mit Erna »Haschen« durch alle Bänke und schmalen Gänge hindurch. Und Annemarie thronte sogar hoch oben auf dem Katheder. Auch Margot hatte sie dazu veranlaßt, weil man von dort alles viel schöner sehen konnte.
Der jubelnde Lärm verstummte auch nicht beim Eintritt der Lehrerin. Keins der Kleinen ließ sich in seinem Vergnügen stören.
Fräulein Hering hielt sich die Ohren zu.
»Ruhe!« rief sie dann und klatschte in die Hände. Aber der Erfolg davon war, daß ein Teil der Kinder ebenfalls in die Hände zu klatschen begann, denn sie hielten das für einen wunderschönen Spaß; dadurch wurde der Radau noch größer.
»Aber Kinder, schämt ihr euch denn gar nicht, solchen Lärm zu machen!« rief Fräulein Hering mißbilligend und hielt die an ihr vorüberrasende Hilde am Zöpfchen fest. Die riß sich mit übermütigem Lachen wieder los, in der Annahme, daß Fräulein mitspielen wollte.
Etwas leiser war es jetzt doch geworden, die Lehrerin konnte sich wenigstens verständlich machen.
»Wer mich lieb hat, setzt sich artig auf seinen Platz und spricht kein Wort mehr!« rief sie. Da jagte und tappelte es wieder von vielen kleinen Beinchen in braunen, bunten und schwarzen Wadenstrümpfen durch die