Jeder einzelne von den sechs Piraten war betäubt, wie wenn er einen Schlag vor den Kopf bekommen hätte. Es war allerdings eine Überraschung, wie sie auf der Welt selten vorkommt. Aber Silver hatte sich beinahe augenblicklich von dem Schlage erholt. Jeder Gedanke seiner Seele hatte nur diesem Gelde gegolten – und trotzdem: in einer einzigen Sekunde wußte er, was er zu tun hatte! Er behielt seinen Kopf oben, hatte wieder frischen Mut und änderte seinen Plan, bevor den anderen Piraten ihre Enttäuschung noch so richtig zum Bewußtsein gekommen war.
»Jim,« flüsterte er, »nimm dies und paß auf, wenn's los geht!«
Und er reichte mir eine doppelläufige Pistole.
Gleichzeitig begann er langsam nach Norden zu gehen, und mit wenigen Schritten hatte er die Grube zwischen uns zwei und die anderen fünf gebracht. Dann sah er mich an und nickte, wie wenn er sagen wollte:
»Hier sitzen wir schön in der Patsche!«
Und das war allerdings auch meine Meinung. Er sah mich jetzt ganz freundlich an, aber ich war so empört darüber, daß er fortwährend die Partei wechselte, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihm zuzuflüstern:
»Also steht Ihr wieder mal auf einer anderen Seite!«
Er hatte keine Zeit, mir darauf zu antworten. Die Meuterer sprangen mit Fluchen und Schreien einer nach dem anderen in die Grube hinunter, warfen die Kistenbretter heraus und wühlten mit den Händen in der Erde. Morgan fand ein Goldstück. Er hielt es mit einem Schwall von Flüchen empor. Es war eine doppelte Guinee und ging eine viertel Minute lang aus einer Hand in die andere. Morgan schüttelte die Faust, worin er das Goldstück hielt, und brüllte Silver an:
»Zwei Guineen! sind das deine siebenhunderttausend Pfund? Du bist ja wohl der Mann, der sich aufs Tauschen versteht! Du bist der, der niemals was verpfuscht hat, du Schafskopf du!«
»Grabt nur, Jungens,« sagte Silver mit der kaltblütigsten Frechheit; »es sollte mich gar nicht wundern, wenn ihr nicht ein paar Trüffeln fändet.«
»Trüffeln,« wiederholte Merry kreischend. »Hört ihr das, Maate? Ich sage euch, der Mann hat es längst gewußt! Seht ihm bloß ins Gesicht – da steht's geschrieben!«
»So, Merry?« sagte Silver; »mal wieder auf dem Sprung, Käpp'n zu werden? Du bist ein ehrgeiziger Junge, das ist gewiß.«
Aber diesmal standen sie alle miteinander auf Merrys Seite. Mit wütenden Blicken kletterten sie aus der Grube heraus. Aber ich bemerkte dabei eins, was für uns günstig war: sie kletterten alle auf der anderen Seite heraus. So standen wir also da: zwei auf der einen Seite, fünf auf der andern, zwischen uns die Grube. Aber keiner hatte den Mut, den ersten Streich zu tun. Silver stand unbeweglich, hoch aufgerichtet auf seine Krücke gestützt; er beobachtete sie und sah so kühl aus, wie ich ihn nur je gesehen hatte. Tapfer war er, daran gab's keinen Zweifel.
Schließlich schien Merry zu denken, daß es vielleicht gut sein könnte, eine Ansprache an seine Leute zu halten.
»Maate!« rief er, »da stehen zwei – der eine ist der alte Krüppel, der uns hierher gebracht hat und alles verpfuscht hat; der andere ist der Bengel, dem ich das Herz aus dem Leibe reißen will. Auf, Maate – –«
Er erhob Arm und Stimme und wollte offenbar zum Angriff schreiten. Aber gerade in diesem Augenblick ging es: Krack! Krack! Krack! – drei Musketenschüsse blitzten im Dickicht auf.
Merry fiel kopfüber in die Grube; der Mann mit dem verbundenen Kopf drehte sich wie ein Kreisel um sich selber und fiel, so lang er war, auf die Seite. Er zuckte noch ein paarmal – aber er war tot.
Die anderen drei Piraten machten kehrt und liefen davon, so schnell sie konnten.
Im Nu hatte Long John die beiden Läufe seines Pistols dem in der Grube noch wild um sich schlagenden Merry in den Leib abgefeuert; der Mann sah ihn im Todeskampf noch einmal mit rollenden Augen an. John aber sagte:
»George, ich rechne, dir hab' ich's gegeben!«
In demselben Augenblick sprangen der Doktor, Gray und Ben Gunn mit rauchenden Gewehren aus dem Muskatnußgebüsch hervor.
»Vorwärts!« rief der Doktor. »Macht fix, Jungens! Wir müssen sie von den Booten abschneiden!«
Und wir brachen in schnellstem Lauf durch die Büsche, die uns zum Teil bis an die Brust reichten.
Ich kann versichern: dem Silver lag daran, gleichen Schritt mit uns zu halten! Wie er sich an seiner Krücke vorwärts schwang, daß die Muskeln seiner Brust beinahe barsten – das war eine Leistung, die kaum ein Mensch mit gesunden Gliedern ihm nachgemacht hätte! Trotzdem war er um dreißig Schritt hinter uns anderen zurückgeblieben und einem Schlaganfall nahe, als wir den Rand der Hochfläche erreichten. Da rief er:
»Doktor! Sehen Sie doch! Wir brauchen uns nicht zu übereilen!«
Und richtig – Eile war überflüssig. Wir konnten die drei noch am Leben gebliebenen Piraten sehen, wie sie über eine Waldlichtung gerade auf den Besanmast-Berg zurannten – also immer in dieselbe Richtung. Wir befanden uns bereits zwischen ihnen und den Booten. Und so setzten wir vier uns denn nieder, um uns zu verschnaufen, während John, sich den Schweiß abwischend, langsam zu uns herankam.
»Danke Ihnen vielmals, Herr Doktor!« sagte er. »Sie kamen, denk' ich, gerade im allerletzten Augenblick für mich und Hawkins. Und so bist du das, Ben Gunn!« fuhr er fort; »na, du bist mir ein netter Kerl!«
»Bin Ben Gunn – gewiß,« stotterte der Mann der Insel und wand sich dabei wie ein Aal in seiner Verlegenheit.
»Und«, setzte er nach einer langen Pause hinzu, »wie geht es Ihnen, Herr Silver? Sehr gut, sagen Sie – na, das freut mich, danke.«
»Ben, Ben!« murmelte Silver vor sich hin; »wenn ich denke, daß du mich angeführt hast – oh! oh!«
Der Doktor schickte Gray fort, um eine von den Hacken zu holen, die die Meuterer bei ihrer eiligen Flucht in der Grube liegen gelassen hatten, und während wir dann gemächlich den Berg hinunter nach der Stelle gingen, wo die Boote lagen, erklärte er uns mit ein paar Worten, was vorgegangen war. Es war eine Geschichte, die Silver sehr zu Herzen ging, und Ben Gunn war der Held der Geschichte von Anfang bis zu Ende.
Ben hatte auf seinen langen, einsamen Wanderungen über die ganze Insel das Gerippe gefunden; natürlich war er es, der es ausgeplündert hatte. Dann hatte er den Schatz gefunden (die zerbrochene Pickaxt, die in der Grube lag, gehörte ihm). Er hatte in vielen Tagereisen mit saurem Schweiß den ganzen Schatz auf seinem Rücken vom Fuß der Riesenfichte nach einer Höhle geschleppt, die er an dem zweigipfeligen Berg auf der Nordostspitze der Insel bewohnte, und dort hatte der Schatz sich seit zwei Monaten vor der Ankunft der Hispaniola in Sicherheit befunden.
Als der Doktor ihm, am Nachmittag nach dem Angriff der Piraten, dieses Geheimnis aus der Nase gezogen hatte, und dann am nächsten Morgen den Ankergrund leer sah, war er zu Silver gegangen, hatte ihm die jetzt nutzlos gewordene Karte gegeben – hatte ihm die Vorräte gegeben (denn Ben Gunns Höhle war reichlich mit Ziegenfleisch versehen, das dieser selbst eingepökelt hatte) –, hatte ihm alles und jedes gegeben, nur um dadurch die Möglichkeit zu erlangen, in Sicherheit von dem Blockhaus nach dem zweigipfeligen Berg zu ziehen, wo sie keine Malaria zu befürchten hatten und den Schatz hüten konnten.
»Daß wir dich im Stich lassen mußten, Jim,« sagte der Doktor, »tat mir innig leid – aber ich handelte so, wie es mir am besten für die schien, die bei ihrer Pflicht geblieben waren; und wenn du nicht bei diesen warst – wessen Schuld war das?«
Als er nun am Morgen fand, daß ich in die furchtbare Enttäuschung, die der Meuterer harrte, mit hineingeraten mußte, da hatte er den ganzen Weg nach Bens Höhle im Laufschritt zurückgelegt. Er hatte den Squire zur Pflege des Kapitäns dort gelassen und war mit Gray und Ben quer durch die Insel marschiert, um zur rechten Zeit an der Riesenfichte zu sein. Er sah jedoch bald, daß die Piraten einen Vorsprung vor ihm hatten, und da hatte er den schnellfüßigen Ben Gunn vorausgeschickt, um die Kerle zu beschäftigen. Der war auf den guten Gedanken gekommen, seine früheren