Homo sapiens movere ~ geschehen. R. R. Alval. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. R. Alval
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847612414
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es egal.“ Ich konnte die Fassungslosigkeit, den Schmerz und die Wut fühlen. Aber seine Stimme war absolut tonlos. Als hätte er die nötige Kraft verloren. „Hoffentlich ist Lucy untergetaucht.“ Was sagte es über einen Kerl aus, der sich Sorgen um seine Ex machte? „Steig auf.“ So wie er mich ansah, musste ich wohl außerirdisch sprechen. „Steig auf, verdammt nochmal. Willst du hierbleiben? Dich umbringen lassen?“ Es war vielleicht ein Fehler. Eventuell aber auch ein kalkulierbares Risiko. Er stand auf, warf einen letzten Blick auf die Leiche der Frau und setzte sich hinter mich.

      Ich konnte spüren, dass es ihn Überwindung kostete. Dass er seine Schwester nicht so liegenlassen wollte. Doch hatte er – hatten wir – eine andere Wahl? „Festhalten.“ Er klammerte sich an mich. Etwas, was ich bei einem Mann nie erlebt hatte. Zumindest nicht auf dem Motorrad. Die wollten keine Schwäche zeigen. Aber normalerweise weinten sich auch nicht. Und normalerweise starben einem Freunde, Familie, Nachbarn und Bekannte auch nicht – verdammt nochmal – einfach vor den Augen weg.

      An einem einzigen, beschissenen, saulangen, nicht enden wollenden Tag.

      Begegnungen

      Eigentlich hätte ich – hätten wir – in weniger als zwei Stunden bei unserem ‚Bungalow‘ eintreffen müssen. Er lag nur etwa 150 Kilometer südlich der Stadt. Tja, eigentlich würde ich jetzt mit meiner Familie feiern, Geschenke bekommen, bescheuerte Witze hören, Kaffee trinken und Kuchen essen. Leider passierte im Moment das Gegenteil von allem, was mein menschlicher Verstand glauben wollte oder auch nur ansatzweise kapierte. Wir brauchten beinah zwei Stunden, um aus der Stadt herauszukommen. Roy hatte mir dabei ein, zwei hilfreiche Kommentare zugebrüllt. Er kannte ein paar Schleichwege, von denen ich nichts wusste. In den südlichen Stadtteilen kannte ich mich nämlich kaum aus. Leider brachte die Stadtgrenze nicht die erhoffte freie Fahrt. Ich stöhnte, stoppte das Motorrad und machte es aus. Vor uns verlief die Straße.

      Theoretisch!

      Praktisch war sie verschwunden. Ein Feld aus Asphalttrümmern, die hier und da wie Mahnmale aus dem Boden wuchsen. Ich nahm den Helm ab und drehte mich halb zu meinem Sozius um. „Und jetzt? Irgendeinen Plan?“ Zum Glück konnten wir hier einigermaßen sehen. Es war nicht ganz so dunkel wie in der Stadt. Vermutlich, weil hier keine Gebäude eingestürzt waren. Der Radweg schien noch befahrbar zu sein… soweit ich das sehen konnte. Roy war derselben Ansicht. Wir stiegen beide ab. Begutachteten den Schlamassel. Denn blöderweise lag zwischen der eigentlich vorhandenen Straße und dem Radweg eine Luftlinie von grob geschätzt zehn Metern. Und diese zehn Meter wiesen – neben der verbogenen Leitplanke – einen tiefen Straßengraben und einen knapp zwei Meter hohen Metallzaun auf. „Der Graben ist ein Problem.“, meinte Roy. Der Graben?

      Was war mit der Leitplanke und dem Zaun? Wollte er das Motorrad drüber heben? Drüber werfen? Eine andere Möglichkeit gab es nämlich nicht.

      Zum Anfang der Leitplanke zu laufen war irrsinnig. Undurchdringliches Gebüsch schmiegte sich dicht an das Metall. Und das Motorrad wog grob geschätzt etwas über hundert Kilo. Wenn er das anheben konnte, bekäme er von mir einen Orden. Und wahrscheinlich auch einen Hexenschuss. „Ich wünschte, Lucy wäre hier.“ Er schloss fest die Augen. Schluckte. Ballte seine Hände zu Fäusten. Schüttelte den Kopf. „Lucy? Die kann das Motorrad auch nicht anheben.“ Sein Blick verunsicherte mich.

      Dann nickte er langsam.

      Sehr langsam.

      „Lucy hätte es Kraft ihrer Gedanken auf die andere Seite befördern können. Sie ist eine movere.“ Mein Mund klappte auf. Das musste eine Lüge sein. Lucy war keine movere. Das hätte sie mir gesagt. „Hätte sie das?“

      Verblüfft schaute ich zu ihm auf.

      Er stand plötzlich sehr dicht vor mir. Mit meinen 1,65 war ich nicht unbedingt die Größte. Ich reichte ihm kaum bis zur Schulter. Alles, was ich jedoch im Augenblick wahrnahm, waren seine blauen Augen. Ritterspornblau. „Ich kann keine Gedanken lesen, falls du dich das fragst. Aber dein Gesichtsausdruck spricht Bände.“ Ich nickte. Um beides zu bestätigen. Irgendwie. „Auch ich bin ein movere.“

      Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Noch einen. Er lächelte schief. Schnaubte. „Angst?“ Sollte ich die nicht haben? Vermutlich hatte er Lucy nur aufgeführt, damit ich mich jetzt sicher fühlte. Pah! „Ich kenne dich schließlich kaum.“ Roy schnalzte mit der Zunge. „Immerhin gut genug, um mich aus der Stadt mitzunehmen.“ Da war etwas dran. Nur hatte ich zu dem Zeitpunkt noch geglaubt, er sei ein normaler Mensch. Keine… potentielle Bestie. „Warum bist du nicht in Gewahrsam?“ Sein Blick war vernichtend. „Gewahrsam? Bist du so naiv, Chantalle? Movere werden nicht verwahrt. Sie werden vernichtet.“ Stirnrunzelnd widersprach ich ihm. „Nur die Gefährlichen.“ Sein Lachen klang laut in der kargen Stille. „Und wer beurteilt das? Nach welchen Kriterien?“ Erneut schüttelte Roy den Kopf. „Nein Chantalle. Sie beseitigen alle. Ich habe es gesehen. Sie entledigen sich ganzer Familien, nur weil einer davon anders ist. Sogar Babys.“ Er schloss den Mund. Sein Blick glitt in die Ferne. Seinen Kiefer presste er fest aufeinander.

      Mein Mund klappte auf und wieder zu. Mir fehlten die Argumente.

      Möglich, dass er log. Aber was, wenn er die Wahrheit sagte? „Wir movere sind im Moment nicht das Problem. Hast du die Dinger gesehen? Manche unmenschlich schön, andere als wären sie halb Tier halb Mensch?“ Hatte ich. Und ich hatte keine Erklärung dafür. „Ich möchte fast behaupten es sind Werwölfe oder sowas.“ Roy fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und über die kurzen, blonden Haare. Dann sah er wieder zu mir. „Also: Irgendeinen Plan, wie wir das Gefährt den Graben hinunter und drüben wieder hinauf bekommen?“ Ich zuckte mit den Schultern und schob die Augenbrauen fragend über meine gesamte Stirn. Hätte mein Haaransatz sie nicht gebremst, wären sie bestimmt bis in mein Genick gerutscht. „Schieben?“ Roy sah auf das Motorrad. Zu mir. Dann stieg er über die Leitplanke und inspizierte den Graben genauer. Bückte sich. Studierte die Beschaffenheit. „Trocken. Könnte klappen. Könnte aber auch schief gehen. Ist aber alles ziemlich zugewachsen. Blockiert es, wenn der Motor aus ist?“ Ich verneinte. „Die Bremsen auch nicht?“ Ich verzog den Mund. „Weiß ich nicht.“

      „Mist. Mit älteren Modellen und Crossmaschinen kenne ich mich aus. Diese neuartigen Dinger…“ Er holte tief Luft. „Äh… und die Leitplanken? Willst du das etwa drüber heben?“ Er lachte leise. „Ich fühle mich geehrt, dass du mir solche Kraft zutraust. Aber nein, dafür habe ich eine andere Lösung.“ Abwartend sah er mich an.

      Fast, als verlange er Stillschweigen von mir.

      Dann ging er zügig zur Leitplanke. Legte beide Hände darauf; in einem Abstand von geschätzt anderthalb Metern. Das Metall an seiner linken Hand lief weiß an. Das an seiner rechten begann rot zu glühen.

      Mein Mund klappte schon wieder auf. Langsam wurde das zur Gewohnheit. Ich war doch kein Karpfen, verdammt! Obendrein entfuhr mir ein Laut des Erschreckens. Möglicherweise auch des Erstaunens.

      Immerhin hatte er mich vorhin mit eben diesen Händen festgehalten.

      Die Leitplanke zu seiner linken knackte. Die zur rechten begann zu tropfen. Und dann war sie weg. Abgefallen!

      Mit den Füßen trat er das Stück Metall zur Seite. „Beeindruckend, hm?“ Ich äußerte mich nicht. „Ach komm schon. Gib es zu. Ein bisschen bist du neidisch.“ Vielleicht. Würde ich nie im Leben zugeben.

      Also zuckte ich lediglich mit den Schultern.

      Unsere Unterhaltung verlief leise. Wir wollten keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Nur aus diesem Grund vernahm ich das leise Knacken seitlich von mir. Roy hörte es auch. Ruckartig flogen unsere Köpfe herum. Ich sah nichts. Hörte auch nichts mehr. Roy deutete mit der Hand zum Motorrad. Mit dem Kopf nickte er zum Graben. „Ich halte es vorn. Sollte ich wegrutschen, versuch es von hinten zu stützen. Drüben wieder rauf müssen wir beide nach vorn und schieben.“ Ich nickte zustimmend. Das Risiko, dass einer von hinten schob und das Gewicht des Motorrads uns zurück zog, war extrem hoch. Derjenige hinter dem Krad hätte das Nachsehen. Sichtlich