Bruckner war es wieder, der mir eine Mail schickte. Im Anhang befand sich der Link auf die Website von Hamburg Direkt. Bruckner hatte mit seinem Smartphone auch ein Foto von der betreffenden Zeitungsseite geschossen. Die Redaktion hatte meinen Leserbrief tatsächlich gedruckt. Wenn Bruckner mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre mir allerdings entgangen, dass der Text gekürzt wurde. Ich verglich ihn mit meiner Version. Die Änderungen waren aber nicht sehr gravierend. Obwohl ich bei der Postzustellung meinen vollen Namen angegeben hatte, war die Redaktion meinem Wunsch gefolgt und hatte nur das Kürzel TH unter den Leserbrief gesetzt. Hier schien Bruckners Revolverblatt durchaus seriös zu sein.
In den folgenden Tagen kümmerte ich mich nicht mehr um das, was in Hamburg Direkt erschien, denn ich ahnte schon, dass Bruckner ein wachsames Auge auf alles haben würde. Ich hatte allerdings nicht mit seiner Ungeduld gerechnet. Wieder ein paar Tage später saß ich morgens in meinem Büro, als mein Mobile klingelte. Ich hörte es erst nicht, weil ich es in meiner Jacke hatte stecken lassen. Ich schaffte es gerade noch zum Garderobenschrank.
Bruckners Stimme klang verärgert. »Mein Gott, ich dachte schon, Sie hätten sich heute einen freien Tag genommen.«
»Habe ich aber nicht. Sind Sie das, Bruckner?«
»Ja, Entschuldigung! Hier spricht Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner, Kriminaloberkommissar auf Eis. Ist das so in Ordnung?«
»Ja, ja, jetzt kommen Sie mal wieder runter«, forderte ich ihn auf. »Gab es eine Antwort?«
»Gab es eine Frage«, rief Bruckner trotzig.
»Ich meine den Leserbrief, oder warum rufen Sie an?«
»Ach so, das meinen Sie mit Antwort, Antwort auf den Leserbrief.« Es entstand eine kurze Pause. Bruckner holte tief Luft. »Warum wissen Sie das denn nicht selbst?«
»Es reicht doch, dass Sie es herausfinden. Das nenne ich Arbeitsteilung. Ich habe den Leserbrief geschrieben, Sie haben die Zeitung im Blick.«
Dann hörte ich einige Sekunden lang gar nichts mehr. Bruckner musste den Hörer mit der Hand abgedeckt haben, denn auch das leise Stimmengewirr im Hintergrund war verstummt.
»Hallo, sind Sie noch da?« Keine Reaktion. Ich wartete. »Hallo!« Dann hallte es und Bruckner meldete sich wieder.
»Entschuldigung, ich musste mir mal eben eine ruhige Ecke suchen.«
»Wieso, wo sind Sie denn?«, fragte ich etwas irritiert.
»Wo soll ich denn wohl sein, im Büro natürlich. Ich habe Ihnen doch erklärt, dass ich zur Zeit Schreibtischtäter bin.«
»Aber Sie waren eben nicht in Ihrem eigenen Büro, oder?«
»Ich hab’ gar kein eigenes Büro mehr, das heißt, ich hab’ mein Altes noch, aber dort sitzt vorübergehend ein anderer Kollege.«
»Sie sind aber weiterhin bei der Polizei, oder hat man Sie suspendiert?«
»Was soll das, was denken Sie denn über mich? Suspendiert!«
Bruckner klang sichtlich empört. Es lag aber etwas in seiner Stimme. Ich spürte es irgendwie und es sagte mir, dass sein derzeitiger beruflicher Status nicht sehr weit von einer Suspendierung entfernt sein konnte. Er versuchte mich einigermaßen aufzuklären, aber es war wohl nur die halbe Wahrheit.
»Ich habe Ihnen doch erklärt, dass man mir andere Aufgaben in einem anderen Dezernat übertragen hat«, begann er. »Ich bin daher gezwungen, auch räumlich mit den neuen Kollegen zusammenzusitzen.«
»Und die haben ihre Büros in einer anderen Sternspitze des Polizeipräsidiums?«
»Ich bin derzeit nicht mehr am Bruno-Georges-Platz.«
Wir schwiegen einige Sekunden. Vielleicht war es besser nicht weiter über Bruckners Situation zu sprechen. Es musste ernster sein, als er bisher vor mir zugegeben hatte.
»Jetzt lassen wir das mal«, sagte er schließlich. »Mir dauert das alles zu lange.«
»Was dauert zu lange?«
»Na, es hätte doch schon längt eine Reaktion auf den Leserbrief geben müssen.«
»Nach drei Tagen?«
»In der heutigen Zeit mit den mobilen Medien sind doch drei Tage wie früher drei Wochen.«
»Nein, nein, das ist Quatsch«, warf ich ein. »Lassen Sie den Dingen doch ihren Lauf. Wenn wir wirklich jemanden mit dem Leserbrief getroffen haben, dann wird es nicht sofort eine Reaktion geben und das ist auch gut so.«
»Warum?«, fragte Bruckner.
»Ich meine, Ihre Theorie. Wenn es Scherzbolde sind, dann könnte ich mir vorstellen, dass sie sich sofort melden.«
»Es handelt sich hierbei aber um keinen Scherz. Ich bin seit zwanzig Jahren Bulle. Ich spüre, wenn an einer Sache mehr dran ist ...«
»Verdammt, ich hab’ es ja verstanden.« Ich musste mich zurückhalten, um nicht ins Telefon zu schreien. »Hören Sie, je länger eine Reaktion auf meinen Leserbrief ausbleibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie recht haben.«
»Dann muss ich auch Recht haben, wenn niemand antwortet, ja, aber das nützt uns nichts, weil wir dann genauso schlau sind wie vorher.«
»Wenn das eintritt, dann müssen wir es eben ein zweites Mal probieren«, antwortete ich.
»Ja genau, das ist auch meine Meinung. Ich habe über Ihren Text nachgedacht. Vielleicht sollte man noch etwas hinterherschieben, etwas Schärferes, etwas das wirklich provoziert.«
»Was denn?«, rief ich. »Sie dürfen auch nicht übertreiben, sonst druckt es die Zeitung nicht.«
»So meine ich es doch gar nicht.« Bruckner schien zu überlegen. Es dauerte wieder ein paar Sekunden, bis er weitersprach. »Ich habe da mehrere Ideen. Ich schreibe was anderes als Sie, nur eine neue Theorie, zum Beispiel, dass in Süddeutschland ähnliche Schaufensterpuppen aufgetaucht sind.«
»Warum Süddeutschland?«
»Ach ist doch egal, Süddeutschland, Ostdeutschland, Westdeutschland. Es kann auch irgendeine andere Großstadt sein. Ich will doch bloß provozieren und andeuten, dass schon vorher jemand auf den Scherz mit den Schaufensterpuppen gekommen ist.«
»Und Ihre anderen Ideen?«
»Was?«
»Sie sagten, Sie hätten mehrere Ideen?«
»Ach so, ja. Das ist etwas heikel. Ich könnte einen Brief schreiben, anonym, und behaupten, ich habe das mit den Schaufensterpuppen gemacht. Ich fordere die Zeitung auf, es zu drucken ...«
»Also, jetzt hört es aber auf. Am Ende werden wir beide verhaftet, weil man uns die Sache mit den Schaufensterpuppen anhängt. Bitte unterlassen Sie solche Dinge.«
»Ja, ja, ist schon gut.« Bruckner klang wieder nachdenklich. »Aber irgendetwas muss ich tun.«
»Abwarten, das können Sie tun«, sagte ich scharf.
»Passen Sie auf«, entgegnete Bruckner. »Ich hab’ da was formuliert. Nichts davon, dass ich ... Sie wissen schon. Ich schicke es Ihnen gleich mal, und wenn es in Ordnung ist, geben Sie mir grünes Licht und wir haben einen zweiten Leserbrief in Hamburg Direkt, und wenn wir Glück haben, dann ist das das Zünglein an der Waage.«
Ich überlegte. Ich hatte jetzt keine Lust mehr, weiter mit Bruckner zu diskutieren. Es führte zu nichts. Er musste erst einmal wieder runterkommen.
»Meinetwegen, dann schicken Sie mir Ihren Text«, schlug ich vor. »Wenn ich mich bis heute Nachmittag nicht mehr melde, dann halten Sie die Füße still, versprechen Sie mir das?«
»Ja, aber urteilen Sie nicht zu voreilig. Sie werden sehen, dass ich recht habe. Wir müssen