»Nein, nein, so ist es nicht, ich will nur keine Zeit verlieren. Sie kennen mich ja.« Bruckner machte eine Pause. »Ich würde mich freuen, wenn Sie ... Also ich habe gleich auch noch einen Termin. Aber geht es nicht vielleicht doch bei Ihnen am Nachmittag.«
»Gut, aber nicht vor zwei«, sagte ich.
»Drei, mir wäre drei Uhr lieber.« Bruckners Stimme klang jetzt wieder heller.
Ich überlegte kurz. »Gut, abgemacht, drei Uhr. Kennen Sie noch die Wohnung in Altona?«
*
Bruckner kannte die Adresse noch. Wir verabschiedeten uns auf später. Ich stellte mein Telefon zurück in die Ladeschale und lehnte mich in meinem Bürostuhl ganz zurück. Ich konnte nicht entscheiden, wie ernst Bruckners Situation wirklich war. Hartmann hatte mir nur wenig erzählen können. Er selbst war wieder voll und ganz beim Erkennungsdienst und hatte in den vergangenen Monaten nicht mehr viel mit Bruckner zu tun gehabt. Ich erinnerte mich an die Presse, die bis in den September hinein den Fall der Eheleute von Treibnitz breitgetreten hatte. Am Ende konnte den Lesern auch die kleinste Information präsentiert werden. Die Vorstrafe von Caroline Upp und ihr Verhältnis zu Sebastian von Treibnitz, die Gerüchte um die Vaterschaft bis hin zur Rolle von Klaus Hilke. Magdalena von Treibnitz wurde immer mehr als das Opfer dargestellt. Es gab Interviews mit ihren Ärzten, die schließlich von der Staatsanwaltschaft unterbunden wurden, was aber die öffentliche Fürsprache für Magdalena von Treibnitz noch erhöhte. Es schien so, als wenn sie von der Mörderin zum Opfer wurde. Selbst das Vorgehen des SEK, des Sondereinsatzkommandos, wurde kritisiert. Es gab Stimmen, die behaupteten, Linda Salbert und Sebastian von Treibnitz seien erst durch den angeblich überzogenen SEK-Einsatz zu Tode gekommen.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass Bruckner bei seinen Vorgesetzten lange Zeit in der Schusslinie stand und für den ganzen Rummel verantwortlich gemacht wurde. Vielleicht suchte er das Gespräch mit mir, um genau diese Dinge noch einmal aufzuarbeiten. Vielleicht gab es gar keinen neuen Fall. Ich überlegte, ob so etwas zu ihm passen würde. Ich kam zu keinem Schluss. Ich hatte ihn schließlich noch nie in einer Phase des Misserfolgs erlebt.
Es klopfte hastig und Frau Sievers steckte den Kopf zur Tür herein. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was sie mir sagen wollte.
»Sie müssen sofort nach Hause. Ihre Frau hat angerufen. Ihre Tochter hatte einen Unfall.«
»Beth!«, rief ich und schnellte aus dem Bürosessel hoch. Frau Sievers erkannte wohl die Panik in meinen Augen und klärte mich rasch über die tatsächliche Tragweite des Unfalls auf.
»Sie ist auf dem Schulspielplatz mit dem Kopf irgendwo angestoßen. Es soll schon nicht mehr so stark bluten, aber Ihre Frau sagt, dass Sie mit ihr ins Krankenhaus will.«
»In welches Krankenhaus?«
»Das hat Ihre Frau mir nicht gesagt.«
»Aber ich muss doch wissen, in welches Krankenhaus ich zu fahren habe«, rief ich.
»Nein, nein!« Frau Sievers schüttelte den Kopf. »Ihre Frau und Ihre Tochter sind noch zu Hause in Osdorf. Sie sollen gemeinsam ins Krankenhaus fahren.«
Ich nickte. »Und es blutet nicht mehr so stark?«
»So hat sie es formuliert«, bestätigte Frau Sievers.
Ich war schon am Schrank, hatte meine Jacke herausgeholt und verließ schnellen Schrittes das Büro. Von unterwegs rief ich meine Frau an, sprach auch mit meiner sechsjährigen Tochter, sagte ihr, wie tapfer sie sei und dass ich gleich bei ihnen wäre. Ich brauchte zwanzig Minuten nach Hause und noch einmal zehn, bis wir es zur Asklepios Klinik in Altona geschafft hatten und dort im Wartezimmer der Notaufnahme saßen. Nach einer halben Stunde waren wir endlich an der Reihe, obwohl es mir schien, dass wir an diesem Morgen die einzigen Patienten waren. Ich hatte Beth die ganze Zeit Mut gemacht und ihr erzählt, dass es nicht wehtun würde und dass sie morgen in der Schule den anderen Kindern eine echte Seeräubernarbe zeigen könnte. Sie war dann so enttäuscht, als der Arzt verkündete, die Verletzung müsse nicht genäht werden, dass sie beinahe wieder zu weinen begann. Sie bekam dann immerhin ein extragroßes Pflaster. Der Arzt schloss eine Gehirnerschütterung aus. Wir sollten nur wieder ins Krankenhaus zurückkommen, wenn es Beth doch noch übel werden sollte und sie sich übergeben müsse. Die ganze Angelegenheit war nach einer weiteren halben Stunde überstanden. Wir fuhren nach Hause. Eva legte das Kind sofort schlafen. Beth war allerdings schon wieder aufgestanden, noch bevor ich erneut auf dem Weg ins Büro war.
*
Bruckner war pünktlich. Bevor er an der Wohnungstür klingeln konnte, hatte ich ihm schon aufgemacht. Er trat einen Schritt vor und sah sich um.
»Wusste ich’s doch. Haben Sie immer noch keinen Mieter gefunden?«, fragte er.
»Doch! Ist schon wieder frei, seit Februar.«
Bruckner sah sich um und überlegte. »Wo ist denn das Bett, da war doch so eine Futonmatratze, oder?«
Ich nickte. »Die ist hinüber. Die sah so aus, als wenn der Mieter eine Fahrradkette darauf repariert hätte, Öl- und Schmierflecken. Ich weiß auch nicht, was der Typ gemacht hat. Ging alles von der Kaution ab.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie da knallhart sind«, lachte Bruckner.
»Das kostet eben alles Geld.«
Erst jetzt gaben Bruckner und ich uns die Hand. Ich deutete auf die Sitzecke. »Wollen Sie schon mal Platz nehmen. Einen Senseo?«
»Jetzt ist es doch ein Déjà-vu«, meinte Bruckner. »Beim letzten Mal haben Sie mich das auch gefragt. Ich dachte, der Mieter bekommt die Maschine als Bonus geschenkt?«
»Hat er auch, zusammen mit den Kaffeepads. Ich habe eine Neue gekauft.« Ich deutete zur Küchenecke, wo die Kaffeemaschine schwarzglänzend stand. »Die hat jetzt sogar eine Kalkanzeige und einen verstellbaren Auslass, wegen der Tassengröße.«
Bruckner zog einen der Sessel zurecht und setzte sich. »Da sind Sie ja richtig spendabel, die war doch bestimmt nicht billig?«
»Sonderangebot! Ich habe gleich elf Stück gekauft, weil sich das Konzept auch bei der Mietersuche für andere Wohnungen bewährt hat.«
»Und wie viele Pads gibt’s gratis?«
»Fünf Tüten, zweihundert Pads! Ich kaufe jetzt bei einem bekannten deutschen Discounter. Der Kaffee ist klasse, den trinken wir sogar zu Hause. Also! Wollen Sie einen?«
Bruckner nickte. Ich drehte mich zu der Maschine um, füllte Wasser in den Tank, legte die Pads ein und drückte den Schalter, der sofort zu blinken begann. Ich sah wieder zu Bruckner, der sich gerade eine Zigarette in den Mund steckte.
»Schade, dass Sie wieder rauchen«, sagte ich sofort, »und schade, dass ich es Ihnen hier leider nicht erlauben kann.«
»Kein Problem«, sagte Bruckner und hielt mir die vermeintliche Zigarette hin. »Ist das neuste Modell, kaum größer als eine Echte. Ich war es leid, dass man mich immer wegen des schwarzen Stiftes angesprochen hat.«
Ich überzeugte mich selbst. Tatsächlich handelte es sich um eine dieser elektrischen Zigaretten. Ein dünner, weißer Kunststoffschaft, das Mundstück sah aus wie der Filter einer richtigen Zigarette. Bruckner steckte sich die E-Zigarette wieder in den Mund und sog daran. Feiner Dampf entwich zwischen seinen Lippen und verflüchtigte sich sofort.
Ich nickte. »Das geht in Ordnung. Und Sie können immer noch nicht ohne?«
»Leider nicht, wobei ich auch ganz froh bin, wenn meine Finger etwas zu tun bekommen.«
Der erste Kaffee war durchgelaufen. Ich holte die Tasse und stellte sie auf den kleinen Couchtisch vor Bruckner hin.
»Ich kann Ihnen nur schwarzen Kaffee anbieten«, sagte ich. »Milch und Zucker habe ich nicht so schnell auftreiben können.«
»Geht schon in Ordnung.«
Ich