Er schüttelte nur den Kopf, deutete nach oben und lächelte. Seine Augen leuchteten. Er sprach kein Wort, öffnete die Tür und ging hinaus. So verschwand er aus unserem Leben. Wir sahen ihn nie wieder.
Karin meinte noch: „Nächste Woche ist er wieder da.“
Ich aber dachte, ja, das ist wirklich seltsam, wenn ich mir das jetzt so überlege: Viele Menschen steigen aus, verschwinden plötzlich, einfach so, manche sterben, andere wieder beginnen ein neues Leben andernorts und unerkannt.
Wer also weiß, wie es wirklich war? Es gibt so viele „wahre“ Versionen von der Wirklichkeit, wie es Menschen gibt. Und alle sind sie richtig, und alle sind sie falsch. Rashomon heißt der japanische Film, in der jeder der Befragten eine andere Tat schilderte, und alle sprachen sie über denselben Mord. Du erinnerst dich? So viele Täter, und doch nur ein Opfer, einer nur tat die eine Tat. Und jede Version schien wirklich glaubhaft zu sein.
„Aber hier in unserem Fall geht es doch nicht um Mord“, wendest du, aufmerksame(r) LeserIn, ein und - hast Recht.
„Und die Unterschiede, wo sind denn die?“, fragst du weiter.
„Ob er noch einmal zurückkehrte oder nicht, nach oben zeigte oder nicht, was spielt denn das für eine Rolle?“
Nun ja, jedenfalls in einem Punkt stimmen alle überein: Es war Herbst, draußen stürmte es, und er war ziemlich sprachlos!
Warum so viele Details, die doch völlig unwichtig sind? Immer versuchen wir uns, wenn wir etwas erzählen, so genau wie möglich zu erinnern, an Einzelheiten, die wirklich niemanden außer uns interessieren, die gänzlich ohne Belang für das Wesentliche sind. Aber so ist es nun einmal, das wirkliche Leben. In einem Buch oder Film käme so etwas niemals vor. Denn das interessiert ja wirklich keinen. Wichtig könnten Details aber dennoch sein! Wenn jemand nachforschte und versuchte, mein Verschwinden aufzuklären. Eine kriminalistische Untersuchung mit Verdacht auf ein Gewaltverbrechen - Entführung, Totschlag, Mord? Dann, ja dann wäre eine Befragung aller Beteiligten sinnvoll gewesen, weil man so manches dabei erfährt, so ganz nebenbei, das einen weiterbringt, immer weiter und hin zur Auflösung der Tat. Dann hätten die Stammtischfreunde die Schilderung der Autorin etwa mit diesen Worten ergänzt: „Er war schon immer ein wenig seltsam und sehr still. Nur selten taute er auf, und dann erst nach einem Glas Wein. Dann redete er und redete, lachte sogar.“
„Der träumt ja schon wieder, dachte ich. ‘Wach auf!’“(Dazu der Schlag auf den Rücken, vom Anwalt persönlich.)
„Nein, danach sahen wir ihn nie mehr wieder!“
Aber es geschah ja kein Mord, wie wir wissen! Also gab es auch keine Untersuchung!
„Trotz des mysteriösen Verschwindens?“, wendest du, liebe(r) LeserIn, ein. „Das glaube ich aber nicht.“
Also waren da doch die Kripo, die eingehende Befragung und- kein Resultat!?
Wie auch immer. Ich sehe es nicht, ich weiß es nicht, denn ich bin nicht allwissend. Es spielte auch keine Rolle bei dem, was kommen sollte. Was zählt, ist nur das eine: Damals verließ ich meine alte Welt und durchwanderte zahlreiche neue, bis ... Jetzt bin ich hier, noch einmal zurückgekehrt, erinnere mich und erzähle dir alles. Und all die Menschen der Welt Stadt, Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kommilitonen und alle anderen, gehören einem fernen Leben an, das ich damals endgültig und unwiederbringlich hinter mir ließ, als ich träumend in die Nacht aufstieg und begann zu schweben.
Dachfenster fliegen vorbei. Die Fußgängerzone. Und über Häuserdächer hinweg schwebe ich aufrecht auf den Wolkenkratzer zu, der erstaunlicherweise weder Bank noch Versicherungsgebäude ist, sondern das Rathaus mit seiner leuchtenden Lichterkette von Fenstern ganz oben. Einige Kreise ziehe ich noch über Kaiserslautern. Dann nähere ich mich den Wolken.
Dieses Bild ist neu für mich. Da ist ja doch noch ein Mensch, der letzte, der mich nach meinem Aufbruch aus der Kneipe sah.
Träumender Blick aus dem Fenster des Rathausrestaurants ganz oben im 21. Stock. Ein Mädchen von sieben Jahren - und das so spät in der Nacht! - sieht nach draußen: „Mami, da fliegt ein nackter Mann!“
Mutti aber, voll gestresst von Bruder Olivers Aktionen, schaut nicht hinaus: „Jaja, Meike! Und jetzt trink aus! Es ist schon spät, wir müssen nachhause!“
Ich merke von all dem nichts, schwebe weiter durch die Nacht. Längst verblasst sind die Lichter hinter mir. Schaue jetzt wieder hinab. Meine Reise hat begonnen, denke ich, und wie es aussieht, gibt es keine Rückfahrkarte. Denn nur vor mir sehe ich das Band aus weißem, gleißenden Licht, meinen Leuchtenden Pfad. Hinter mir aber ist Dunkelheit. Jetzt beginnt er, in allen Farben zu funkeln. Wie ein Regenbogen! Ich sehe, wie er sich in weiter Ferne empor zu den Sternen wölbt. Ich aber bewege mich auf ihm, in ihm. Also bin ich der erste und einzige Leuchtpfadsurfer, Lichtbandscater, Lichtwellenreiter, bin ohnegleichen.
Dann irgendwann kann, will ich einfach nicht mehr stehen. Also setze ich mich nieder, sitze nun bequem wie auf einem fliegenden Teppich aus Tausendundeiner Nacht. Doch da ist kein Teppich, nur ein rot leuchtender Streifen aus Licht. Über mir funkeln die Sterne, und unter mir ziehen Wolken dahin. Weit darunter und hinter mir liegt mein bisheriges Erdenleben. Berauscht will ich mein Glück mit allen teilen, rufe hinaus in die Weite: „Ich lebe!“ Ich tue es, so intensiv wie nie zuvor. Tief atme ich die Nachtluft ein. Tief!
Ich verspüre keinen Hunger. Glück gehabt, denke ich und schaue mich um. Habe nichts dabei und brauche auch nichts. Denn hier oben gibt es für einen Menschen wirklich nicht viel, was essbar wäre. Winzige Algen, Wolkenplankton: wenige Mücken, Fliegen und an Fäden segelnde Spinnen. Sie alle wären Beute für die Mauersegler über den Dächern der Stadt, die längst wieder nach Süden zogen. Habe seltsamerweise auch keinen Durst.
Klar, wenn das nur ein Traum wäre, dann wäre nichts verwunderlich an allem.
Träume ich also all diese Dinge: Pfad, Kneipengang, Stammtisch, Freunde und selbst mich als fliegenden Helden?
Könnte nicht alles diese Dinge nur in meinem Geist geschehen?
Schlafe ich also noch immer? Wie lange schon? Wann wache ich auf und wo?
Aber was ist schon Zeit?
So relativ, so vielfach anders empfunden, so dehnbar und gedehnt, gestaucht, so ...
Hier, in diesen schwarzen und doch leuchtenden, endlosen Räumen, in dieser Schwärze - in dieser, meiner Seele?
Alles, was vor Kurzem begann und noch nicht lange währt, all dies könnte nur eine einzige Sekunde dauern, eine Sekunde eines Traumes?
„Bin ich also nicht mehr als eine Traumgestalt?“, frage ich mich verwundert und schaue, noch immer schwebend in der Weite der Nacht, weinend hoch ins Nichts.
Nichts?
Irgendwer oder irgendetwas ist dort oben. Ich ahne es. Ich weiß es. ETWAS sieht herab.
Also träume ich mich nicht! Also bin ich wirklich! Also existiert dort ein gewaltiges Wesen. Manche nennen es GOTT. Und ich Winzling Mensch habe IHN gesehen. Mein Gott, GOTT schaut mir zu!
Doch da sind noch andere Veränderungen. Etwas ist mit der Mondin passiert. Gewaltig in ihrer Größe steht sie dort über mir. Mondin? Hieß sie nicht irgendwann einmal „Mond“, war männlichen Geschlechts? War nicht Wandel in ihm: Zunehmen und Abnehmen, Neumond und Vollmond? Hier aber leuchtet sie in der Nacht, unveränderbar, ewig, wie gestern, so heute, so morgen: eine gigantische, helle Scheibe, die Volle Mondin.
Und auch hier bei mir gibt es weitere Veränderungen. Während meines Fluges über den Dächern der Stadt schreitet die Verwandlung unmerklich fort. Zunächst ist da ein Zittern, denn kalt ist es hier oben im Herbst für einen nackten Mann. Jetzt aber spüre ich nur noch Wärme, die meinen