Es war, wie sich später noch herausstellte, ein bedeutungsvoller freudiger Tag, der einen völlig anderen Durchblick erforderte. Nicht weil sich der Lenz nach vielen Fehlversuchen reichlich Mühe gab, den Winter endgültig zu vertreiben. Nicht weil heute die Christen der Himmelfahrt des Gotteskindes Jesus gedachten oder wir auf dem Dachboden waren und nicht wie gewöhnlich im Kontor arbeiteten, bis der Tag zur Nacht werde. Nein, wohlige Wärme umgab mich und ich atmete tief und tiefer ein, als ob mein Bewusstsein die Anker der Erinnerungen auf ewig festzurren wollte. Ein Kribbeln kroch unter meine alternde Haut, die bald das 44. Lebensjahr erreichen sollte. Berauschende Leichtigkeit steuerte jetzt meine Gedanken, die wie Quellen eines Jungbrunnens in mir sprudelten und mir das hier und jetzt bewusst machten.
Bedeutungsvolle Anzeichen des Generationswechsels waren zu erkennen und ich setzte meine Brille wieder auf, die mit ziemlicher Sicherheit ein Folterknecht erster Güte erfunden haben musste. Ein Stück Verantwortung übertrug sich wie von Geisterhand auf unsere Kinder Caroline und Cornelius. Sie waren jetzt innerlich bereit. Eigentlich nichts Außergewöhnliches, alles nahm seinen Lauf, wie in anderen Familien auch. Dennoch war es für mich kaum zu glauben und schließlich doch gleichermaßen beruhigend wie normal! Die Kinder positionierten sich unscheinbar wie von selbst und traten ihr unabdingliches Erbe gemächlich an, obwohl sie gestern noch Windelleinen gebraucht hatten. Oder war es etwa vorgestern gewesen?
Keines meiner Kinder sah heute irgendwie müde oder gelangweilt aus. Sie hatten noch immer das gleiche Leuchten in ihren Augen wie zuvor, als ich ihnen von den dramatischen Ereignissen des Jahres 1755 erzählt hatte. Erstaunlicherweise lauschten sie die ganze Zeit, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben. Wenn nur diese Brillenbügel weniger drückten!
Inzwischen war Lisa vom Besuch bei Nathalie, Simons Frau, wieder heimgekehrt – nicht zu verwechseln mit Tante Nathalie aus La Rochelle, die sie nicht einmal eben aufgrund der Entfernung besuchen konnte, wenn ihr danach beliebte. Lisa hatte sich kurz hier oben am luftigen Ende des Hauses sehen lassen. Sie horchte eine Weile meinen Erzählungen und war anschließend mit zufriedenem Lächeln nach unten in die Küche gegangen, um das festliche Mahl am Himmelfahrtstag zusammen mit unserer Köchin Kati zuzubereiten, wie sie es die letzten Jahre meistens getan hatte.
„Erzähl weiter, Vater!“, forderte mich Cornelius eindringlich auf, während er an seinem vollen dunkelblonden Zopf spielte, der für gewöhnlich seinen breiten Rücken zierte. Auch Carolines Gesten signalisierten Zustimmung und ich spürte nochmals kurz in kleinen Gesten ihre kindlichen Freuden, obwohl beide längst erwachsen waren.
„Könnt ihr denn überhaupt noch zuhören?“, fragte ich nachdenklich und zugleich provozierend, so wie sie es von mir gewohnt waren.
„Nun wollen wir auch noch wissen, wann der Walfänger Konstanze aus Amerika zurückkam“, sagte Caroline fordernd und Cornelius ergänzte: „Und wie es Onkel Jacob in Neufrankreich erging und den vielen anderen, von denen du eben erzähltest!“
„Caspar, Caro, Cornelius! Das Essen ist fertig. Kommt runter, ihr könnt nachher wieder mit Vater heraufgehen“, schallte es aus dem hölzernen Treppenhaus.
Lisa rief uns genau zur richtigen Zeit. Nicht nur mein leerer Magen, sondern auch meine heisere Stimme brauchte diese Unterbrechung. Noch nie hatten Caro und Cornelius so viel Interesse und Ausdauer für alte Familiengeschichten gezeigt, die allerdings wegweisend waren und bis heute noch sind. An diesen Tagen musste ich mir die Zeit nehmen, die Ereignisse meiner ersten Walfangfahrt und die Folgen der nächsten Generation der Kocks zu schildern. Es war eben ein besonderer Tag!
Schon bald saßen die Kinder und ich wieder auf dem Dachboden. Lisa hatte eine Armenspeisung nach der Abendmesse in St. Katharinen zu organisieren. Der Anteil der Armen in der Stadt hatte einen neuen Höchststand erreicht, genauso wie die Bevölkerungszahl insgesamt, die annähernd 100.000 Menschen ausmachte. Seit vielen Jahren setzte sie sich für die Bedürftigen des Sankt-Katharinen-Kirchspiels ehrenhalber ein. Sie tat es bestimmt nicht, weil ihr zuhause langweilig war. Lisa hatte ihre Arbeiten für die Kompanie und für die Familie genauso zu erledigen, wie wir alle unseren Teil zum Familienunternehmen beitrugen. Voraussetzung waren ohne Frage Neigung und Vorlieben - selbstverständlich. Wer wird schon Kapitän, wenn die Wasserscheu in einem wühlt? Mit Lisas Rückkehr aus Sankt Katharinen war am späten Abend zu rechnen. Sie diente dort Gott, wie sie sagte, und das tat sie gern und zum Wohle der Allgemeinheit. Wir hatten dementsprechend Zeit, unser Vorhaben auf dem Dachboden fortzuführen. Ich legte neues Holz in den Kamin und wir nahmen unsere Plätze unter dem Dach wieder ein. Wohl gestärkt legte ich los:
Knapp drei Wochen nach meiner Heimkehr feierten wir mehr oder weniger Weihnachten. Eure Großmutter, Charlotte Kock, erholte sich leider nie wieder von ihrer mysteriösen Krankheit, die ausbrach, während ich auf der Konstanze auf Walfang war. Im Gegenteil, ihr Zustand hatte sich weiter verschlechtert. Die Ärzte waren ratlos. Sie konnte nur stundenweise aufstehen und selbst von ihrem geliebten Gänsebraten rührte sie nichts an. Sie war inzwischen ziemlich kraftlos und wollte meistens nur schlafen, bis sie eines Morgens zu Beginn des Jahres 1756 nicht wieder aufwachte. Ihre unerklärliche Schwäche und der nagende Kummer, der sie zusätzlich durch das Fernbleiben des Walfängers quälte, zerrten an Mutters Lebensmut. Den letzten Kampf gegen die eingenisteten plagenden Geister hatte eure nie klagende Großmutter bald verloren.
Meine Schwester Josephine machte sich schwere Vorwürfe. Allerdings nicht gerechtfertigt, denn sie nahm Mutter bereits im Vorfeld ihrer Schwäche weitestgehend alle Arbeiten ab.
Zu allem Übel gab mir später mein großer Bruder Hinrich die Schuld für die Folgen seines Unfalls auf der Schiffswerft, der bekanntermaßen den Verlauf der Dinge auf den Kopf stellte. Er sagte es nie direkt zu mir. Jedoch kam mir zu Ohren, dass der Unfall, kurz vor der Jungfernfahrt unseres Wallfängers Konstanze, von mir verursacht worden sein soll. Das war unfassbar und ungeheuerlich! Die Kopfverletzung, die Hinrich durch den Werftunfall davon trug, führte erst zu meiner Teilnahme statt seiner. Was ihm als Motivation zu dieser fahrlässigen Unterstellung reichte. Ihr wisst es, Onkel Hinrich sollte nach dem Willen unserer Eltern an der ersten Walfangfahrt von unserem Familienunternehmen Kock & Konsorten teilnehmen. Seine Kopfverletzung und seine große Enttäuschung nicht zum Walfang fahren zu können, muss ihm damals die Seele vernebelt haben. Jedenfalls, mich hielten eure Großeltern für zu jung und unerfahren. Zeitlebens blieb ich für Charlotte und Johann-Ludwig Kock der kleinste Spross, der allenfalls behütet werden musste.
Einen Moment stockte ich. Immer noch wühlten die Ereignisse tief vergrabene Emotionen in mir auf, obwohl Hinrich und ich uns vor langer Zeit ausgesprochen hatten und zudem ein inzwischen sehr gutes Verhältnis pflegten. Cornelius nutzte die kleine Unterbrechung und legte Brennholz nach, denn der arktische Wind pfiff erneut über das Dach und machte alle aufgekommenen Frühlingsfreuden des Maimonats zunichte.
„Welche Gründe nannte Onkel Hinrich für seine unhaltbaren Vorwürfe, Vater?“, wollte Caroline unbedingt wissen, die selbstverständlich wusste, dass wir über den Schnee von gestern sprachen.
„Er meinte, da ich kurz vor dem Unglück noch auf dem Schiff zur Besichtigung gewesen war und er damals keine Zeit für mich hatte, wäre es möglich gewesen, die Befestigungen der Rampe zu lockern, auf dem der Rumpf des Schiffes ruhte.“
„Warst du denn wirklich auf dem Schiff?“, fragte Cornelius.
„Ja, ich musste Hinrich die Schiffspläne bringen, die er in der Katharinenstraße bei Großvater vergaß.“
„Er ist also nur aufgrund der Gelegenheit, die du gehabt hattest, einer Vermutung aufgesessen!“, fügte sie erleichtert an.
„Ja, so ist es! Ich hörte später,